Die VR-Brille ist mein Tor in die virtuelle Welt. Auf dem Bildschirm im Hintergrund sieht man das gleiche Szenario wie ich durch die Brille. © Roberto Schirdewahn

Unterwegs in der Lernfabrik Beam me up, Scotty!

Berufliche Weiterbildung neben Job und Familie – eine Herausforderung. Doch wer sagt, dass Weiterbildung immer in Präsenz und in der realen Welt stattfinden muss?

So sieht sie also aus, meine virtuelle Realität. Ich habe Superkräfte – also zumindest eine. Ich kann mich beamen wie Scotty vom Raumschiff Enterprise! Habe ich keine Lust zu laufen, drücke ich nur auf ein Knöpfchen an dem Joystick, den ich in der Hand halte, und schwupps – schon bin ich da, wo ich hinwollte. Ein bisschen karg sieht es hier schon aus, aber was habe ich von einer Fabrik erwartet? Plüschsofas stehen hier jedenfalls nicht herum. Dafür eine Fertigungsstraße. Drei Werkbänke sind über Eck aufgebaut. Hier entsteht im echten wie im virtuellen Leben ein metallener Flaschenverschluss, der „Unilokk“. Quasi das Produkt der Lern- und Forschungsfabrik des Lehrstuhls für Produktionssysteme (LPS) der RUB, in der ich mich – virtuell wie real – befinde.

Um aus einem Block Edelstahl einen spitz zulaufenden und dicht auf dem Flaschenhals sitzenden Verschluss zu machen, sind mehrere Arbeitsschritte nötig. Sägen, Drehen, Fräsen, Schleifen, Montieren, Kleben, Polieren – im realen Leben arbeiten in der Montagestraße bis zu drei Menschen an dem Unilokk, jeder verrichtet dabei eine andere Teilaufgabe. In meiner virtuellen Welt bin ich allein – nur aus dem Off höre ich manchmal die Stimme von Amelie Karcher. Sie ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Produktionssysteme und heute meine Ansprechpartnerin.

Amelie Karcher ist wissenschaftliche Mitarbeiterin und Doktorandin am Lehrstuhl für Produktionssysteme der RUB. © Roberto Schirdewahn

Der Unilokk ist allerdings mehr Mittel zum Zweck. Er bietet den Teilnehmerinnen und Teilnehmern von beruflichen Weiterbildungskursen die Möglichkeit, verschiedene Qualitätsmethoden auszuprobieren und zu üben. Angeboten werden diese Kurse von der kooperierenden Six Sigma Akademie Deutschland. Six Sigma ist ein Managementsystem zur Prozessverbesserung und zugleich eine Methode des Qualitätsmanagements.

Qualitätsmethoden

Es gibt eine Vielzahl von Qualitätsmethoden. Im Forschungsprojekt WILLEN werden bisher fünf davon eingesetzt, unter anderem die 5S-Methode. Sie ist eine einfache Vorgehensweise, um einen Arbeitsplatz zu optimieren, im Fall von WILLEN die Fertigungsstraße für den Unilokk. Im Mittelpunkt stehen dabei die fünf Arbeitsschritte Sortieren (unnötige Dinge aussortieren), Systematisieren (Aufräumen der benötigten Dinge), Säubern (des Arbeitsplatzes), Standardisieren (der Abläufe) und Selbstdisziplin (um alle Punkte kontinuierlich zu durchlaufen).

Beliebte Ausbildung

Die Ausbildung ist beliebt: Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen aus verschiedensten Produktionsbetrieben, aus der Administration, aber auch Betriebsräte, Managerinnen und Manager aus ganz Deutschland kommen nach Bochum in die Lernfabrik des Lehrstuhls für Produktionssysteme, um hier berufliche Weiterbildungen im Bereich der Prozessoptimierung, Digitalisierung und partizipativen Mitbestimmung zu machen. Ihr Ziel: die Effizienz und Effektivität ihres Unternehmens zu steigern.

Das gesamte Programm der Six-Sigma-Ausbildung, das mit dem Erreichen des sogenannten green belt seinen krönenden Abschluss findet, dauert sechs Monate und besteht aus Theorie- und Praxismodulen. Das ist für Menschen mit Familie und Job eine ziemliche Herausforderung, denn meist ist die Zeit knapp und eine kontinuierliche Anwesenheit im Weiterbildungsinstitut kaum realisierbar.

In Bochum geht man daher neue Wege: Hybride Weiterbildungsformate lautet das Stichwort. Der Lehrstuhl für Produktionssysteme, geführt von Prof. Dr. Bernd Kuhlenkötter, zu dem auch die LPS Lern- und Forschungsfabrik gehört, engagiert sich dazu mit verschiedenen anderen Partnern im Verbundprojekt WILLEN – kurz für „Weiterbildung mit intelligenter Lernunterstützung ist effizient und nachhaltig“. Forscherinnen und Forscher unterschiedlichster Fachbereiche untersuchen die Effizienz von adaptiver Lernunterstützung, unter anderem den Einsatz von Augmented (AR)- und Virtual-Reality (VR)-Brillen. Ermöglichen es diese technischen Geräte, Qualitäts- und Prozessoptimierungsmethoden in der virtuellen Welt zu trainieren? Stößt diese Art der Lernunterstützung auf Akzeptanz bei den Teilnehmenden der Weiterbildung? Motiviert es sie vielleicht sogar besonders, den Stoff durchzuarbeiten?

Besser vereinbar mit betrieblichen und familiären Rahmenbedingungen

„Wir sehen die virtuellen Lerninhalte als eine Ergänzung zu bereits vorhandenen Lehr- und Lernkonzepten“, sagt Amelie Karcher, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Produktionssysteme im Bereich Produktionsmanagement der RUB. „Durch den Einsatz der VR-Brillen als technologische Assistenzsysteme können unsere Teilnehmenden die Weiterbildung besser mit betrieblichen und familiären Rahmenbedingungen vereinbaren.“ Mit den Brillen im Gepäck können die Teilnehmenden nämlich verschiedene Module bequem von zuhause aus durcharbeiten – gerade in Pandemiezeiten bietet das innovative Möglichkeiten, interaktiv in realitätsnahe Orte einzutauchen.

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Ob ich heute so weit kommen werde, einen selbst zusammengesetzten Flaschenverschluss in den Händen zu halten, bezweifle ich – aus gesundheitlichen Gründen darf ich mich als Ungeübte nur 20 Minuten in der Virtuellen Realität aufhalten. Jede Minute mehr könnte mein Hirn mit Erschöpfungssymptomen – in der Fachsprache „emotional sickness“ genannt, strafen – und das kann ich mir jetzt schon gut vorstellen.

Die Brille auf der Nase ist gewöhnungsbedürftig, aber ok. Mehr Unmut bereiten mir diese Joysticks, die ich in den Händen halte. Irgendwie wollen die nicht so, wie ich will. Oder schauen wir der Wahrheit ins Auge: Ich vergesse ständig, welcher Knopf welche Funktion hat. Laufen, springen, ducken, mich woandershin beamen – würde ich die Knöpfe beherrschen, stünde mir die (virtuelle) Welt offen.

Die Joysticks haben verschiedene Knöpfe, deren Funktionen ich mir zunächst einprägen muss. © Roberto Schirdewahn

Immerhin schaffe ich es, mich zu einer Werkbank zu beamen, an der ich erst einmal den Vorgang des Aussortierens üben soll. Stapel von verschiedenfarbigen Plättchen sehe ich hier. Und leere Kisten. Meine Aufgabe: die Plättchen sortieren und ordentlich in die Kisten packen. „Sortieren und Kategorisieren“ ist nämlich einer der fünf Teilschritte der 5S-Qualitätsmethode, die auch bei der Fertigung des Unilokk geübt wird. Ist fast wie zuhause, wenn ich mal wieder aufräumen darf. Aber gut, wenigstens habe ich Übung darin.

Mit der Zeit gelingen mir die Abläufe immer fließender und es beginnt, Spaß zu machen. Doch genau da ist die Zeit auch schon um und Amelie Karcher bittet mich aus dem Off, die Session zu beenden. Stimmt, sie war ja die ganze Zeit neben mir – ich konnte sie nur nicht sehen, ich war vollkommen in meiner virtuellen Welt beschäftigt und habe alles andere ausgeblendet.

Anwendungen positiv bewertet

Erste Validierungsergebnisse zur Interaktivität und Akzeptanz liegen bereits vor. Teilnehmende Studierende bewerteten die Anwendungen sehr positiv. Schon jetzt hat Amelie Karcher zig Ideen für weitergehende Forschungsfragen. Wenn sie davon erzählt, strahlen ihre Augen und man merkt ihr an, wie sehr sie für die Forschung brennt. Qualitätsmanagement ist ihr Ding. Auf meine Frage, ob sie auch im Privaten ständig Prozesse optimiert, schmunzelt sie. „Ganz abstellen kann ich das wahrscheinlich nicht, aber ich bemühe mich schon, auch mal fünfe gerade sein zu lassen“.

Interessant war er, mein erster Ausflug in die virtuelle Realität. Und so wie sich unser Leben verändert und immer digitaler wird, ist davon auszugehen, dass diese virtuelle Welt irgendwann fester Bestandteil unseres Lebens sein wird. Nicht nur in der Weiterbildung.

Projekt WILLEN

Im Projekt WILLEN geht es um die Entwicklung eines Weiterbildungskonzeptes, das Online- und Präsenzlehre intelligent kombiniert. Die Weiterbildung soll dadurch besser mit betrieblichen und familiären Rahmenbedingungen vereinbar sein. Verschiedene Teilprojekte befassen sich beispielsweise damit, wie man Lerneffizienz und Lernmotivation fördern kann, wie technologische Assistenzsysteme zu einer nachhaltigen Weiterbildung beitragen können oder welche rechtlichen Aspekte bedacht werden müssen, wenn Weiterbildung zum Teil in der Freizeit stattfindet. Das Bundesministerium für Bildung und Forschung fördert das Projekt WILLEN, das das Deutsche Zentrum für Luft- und Raumfahrt als Projektträger betreut.

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Veröffentlicht

Donnerstag
27. Oktober 2022
09:19 Uhr

Dieser Artikel ist am 2. November 2022 in Rubin 2/2022 erschienen. Die gesamte Ausgabe können Sie hier als PDF kostenlos downloaden. Weitere Rubin-Artikel sind hier zu finden.

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