Chemie Janus-Natur mechanischer Kräfte enttarnt
Viel bringt nicht immer viel. Zumindest wenn es darum geht, feste an einer chemischen Verbindung zu ziehen.
Je fester man zieht, desto schneller geht’s. Das war eine bislang gültige Regel in der Mechanochemie, mit der Forscher chemische Reaktionen durch mechanische Kräfte in Gang setzen. Dass mehr Kraft sich aber nicht eins zu eins in eine umso schnellere Reaktion übersetzen lässt, berichten Chemiker um Prof. Dr. Dominik Marx vom Lehrstuhl für Theoretische Chemie der Ruhr-Universität Bochum (RUB) in der Zeitschrift „Nature Chemistry“.
Mit komplexen molekulardynamischen Simulationen am Jülicher Supercomputer „Juqueen“ enttarnten sie die Janus-Natur der Mechanochemie. Bis zu einer bestimmten Kraft steigt die Reaktionsgeschwindigkeit proportional zur Kraft an. Ist diese Schwelle überschritten, beschleunigen größere mechanische Kräfte die Reaktion wesentlich weniger.
Alte Sicht: Mechanische Kraft verringert Energiebarriere stetig
Um chemische Reaktionen in Gang zu bringen, muss zunächst eine Energiebarriere überwunden werden. Diese Energie können Forscher zum Beispiel in Form von mechanischen Kräften zuführen, die die beteiligten Moleküle verbiegen. Um gezielt mit einzelnen Molekülen zu experimentieren, binden sie zunächst zwei lange Polymerketten an das Molekül. An diesen ziehen sie entweder in einem Kraftmikroskop oder bestrahlen die Lösung mit Ultraschall.
Bislang nahm man an, dass sich die Energiebarriere stetig verringert, je mehr mechanische Energie man in das Molekül steckt. Diese Hypothese widerlegten die RUB-Chemiker nun. Schlüssel zum Erfolg war eine besonders aufwendige Form der Computersimulation, die sogenannte ab initio Molekulardynamik-Methode, die sie nur auf dem derzeit schnellsten Rechner Europas am Jülich Supercomputing Centre im Rahmen eines „Gauss Large Scale“-Projekts stemmen konnten.
Neue Sicht: Mehr Kraft bringt deutlich weniger Effekt
Das RUB-Team betrachtete ein kleines Molekül mit einer Disulfidbrücke, also zwei aneinander gebundenen Schwefelatomen, als Modell im virtuellen Labor auf dem Computer. „Dieses Molekül repräsentiert – extrem vereinfacht – das entsprechende chemisch reaktive Zentrum in Proteinen“, sagt Dominik Marx.
Im Verlauf der Reaktion wird die Schwefelbrücke gespalten. Das geht umso schneller, je stärker die Chemiker an dem Molekül ziehen, also je mehr sie das Molekülgerüst verbiegen – aber nur bis zu einer mechanischen Kraft von circa 0,5 Nanonewton. Kräfte über etwa 0,5 Nanonewton beschleunigen die Reaktion deutlich weniger als Kräfte unterhalb dieses Schwellenwerts.
Zu viel mechanische Kraft erzeugt ungünstige räumliche Struktur
Das Bochumer Team erklärte den Effekt anhand der relativen Position der einzelnen Molekülbausteine zueinander. Während der Reaktion greift ein negativ geladenes Hydroxid-Ion (OH-) aus dem umgebenden Wasser die Schwefelbrücke des virtuellen Proteins an. Bei Kräften über circa 0,5 Nanonewton ist das Protein jedoch bereits so stark verbogen, dass das Hydroxid-Ion die Schwefelbrücke nicht mehr problemlos erreichen kann.
Das Anlegen der Kraft blockiert also den Zugang, was die Energiebarriere für die Reaktion erhöht. Diese kann nur durch eine umso größere mechanische Kraft wieder erniedrigt werden.
Im nächsten Schritt untersuchten die Forscher den Blockademechanismus an komplexeren Modellen, unter anderem einem großen Proteinfragment, ähnlich wie im Experiment. „Der Janus-Mechanismus erklärt bislang unverstandene und kontrovers diskutierte Ergebnisse aus kraftspektroskopischen Messungen am Protein Titin, das in Muskeln vorkommt“, sagt Marx.
Rolle des Lösungsmittels entscheidend
„Weltweit haben sich schon mehrere Theoriegruppen bemüht, dieses experimentell beobachtete Phänomen zu erklären“, so Marx. „Entscheidend war es, die Rolle des Lösungsmittels, also des Wassers, korrekt mit einzubeziehen.“
Das Hydroxid-Ion, das die Schwefelbrücke angreift, ist von einer Hülle aus Wassermolekülen umgeben, die sich im Lauf des Angriffs auf komplexe Weise verändert. Nur wenn diese sogenannten Umsolvatationseffekte während der Reaktion in der Simulation berücksichtigt werden, lassen sich die experimentell beobachteten Effekte virtuell nachstellen. Üblicherweise greifen Theoretiker jedoch auf Methoden zurück, die die Effekte des umgebenden Wassers drastisch vereinfachen (Mikrosolvatation und Kontinuumssolvatation), um die benötigte Rechenleistung zu reduzieren.