Neue DFG-Forschungsgruppe Szenarien der Vergangenheit
Wenn wir uns an etwas zu erinnern versuchen, rufen wir ein Szenario auf. Es wird erst konstruiert, während wir zurückdenken, meinen Forscher.
Hab ich die Kaffeemaschine zu Hause ausgeschaltet? Diese einfache Frage setzt in unserem Gehirn komplexe Prozesse in Gang, die dazu führen, dass wir ein Szenario konstruieren, in dem die Handlung vorkommt, an die wir uns zu erinnern versuchen. Solche Prozesse sind wenig erforscht, aber unverzichtbar für unseren Alltag. Ihnen auf die Spur zu kommen ist Ziel einer neuen Forschungsgruppe unter Leitung von Prof. Dr. Sen Cheng vom Institut für Neuroinformatik der Ruhr-Universität Bochum (RUB), die die Deutsche Forschungsgemeinschaft ab 1. Juli 2019 für drei Jahre fördert.
Vom Listenlernen bis zum Interview
Das episodische Gedächtnis speichert Erinnerungen an spezifische, persönlich erfahrene Ereignisse. Es spielt eine wichtige Rolle in vielen unterschiedlichen Situationen, zum Beispiel beim Auswendiglernen einer Liste, aber auch beim Ausmalen autobiografischer Inhalte. „Wir betrachten diese zwei Situationen als Extreme in einem Spektrum, die das episodische Gedächtnis aktivieren“, erklärt Sen Cheng. Die Forschungsgruppe konzentriert sich auf bisher wenig erforschte Situationen, die in der Mitte dieses Spektrums liegen, hoch relevant im Alltag sind und komplexe Abrufprozesse aktivieren.
Ein weiteres Beispiel – neben der Frage, ob die Kaffeemaschine auch wirklich aus ist – könnte der Versuch sein, die Argumente auf beiden Seiten eines Streits zu rekonstruieren, um zu beurteilen, ob man für die Eskalation (mit-)verantwortlich war. Herkömmliche Gedächtnismodelle können solche Szenarien nicht erklären.
Mentale Simulationen einer Episode
„Wir schlagen vor, dass in Fällen wie diesen die gewünschte Information unter Umständen nicht explizit im Gedächtnis abgespeichert wurde oder nicht direkt abrufbar ist“, erklärt Sen Cheng. „Stattdessen wird die Zielinformation aus einem Szenario extrahiert, das während des Abrufs konstruiert wird.“ Szenarien sind mentale Simulationen einer vergangenen Episode. Sie werden gespeist durch episodische Gedächtnisspuren, die die Quintessenz einer spezifischen Episode speichern, und semantische Information, die statistische Regularitäten der Welt abbilden.
Die Konstruktion von Szenarien hilft, fehlende Daten aufzufüllen. Außerdem ermöglicht sie es, Erinnerungen an sich ändernde Anforderungen und Rahmenbedingungen anzupassen. Diese sind zum Beispiel durch soziale Erwartungen und das Selbstbild beeinflusst.
Ziel: Theorie des Gedächtnisses
Das Ziel der Forschungsgruppe ist es, eine Theorie des episodischen Gedächtnisses zu entwickeln, das auf Szenarien basiert. Dazu wollen die Forscher einige fundamentale Fragen beantworten, unter anderem: Was ist ein Szenario? Wie werden Informationen aus konstruierten Szenarien extrahiert? Was sind zentrale Eigenschaften des episodischen Gedächtnisses, die durch Szenariokonstruktion erklärt werden können? Welche kognitiven und neuronalen Mechanismen liegen ihr zugrunde? Die Gruppe plant, die Effekte der Szenariokonstruktion auf das Verhalten und die zugrunde liegenden neuronalen Mechanismen mit Experimenten und computergestützten Modellen zu untersuchen. Beteiligt sind neben Vertreterinnen und Vertretern der Neuroinformatik, Psychologie und Hirnforschung auch Philosophinnen und Philosophen.