Verletzungen des Zentralen Nervensystems können aus verschiedenen Gründen nicht heilen. Daher bleiben lebenslange Behinderungen.
© RUB, Kramer

Zellphysiologie Wie verletzte Nerven sich selbst am Heilen hindern

Bochumer Forscher finden einen überraschenden Effekt. Das erlaubt neue Ansätze für die Entwicklung von Medikamenten nach Schädigungen im Zentralen Nervensystem.

Schädigungen von Nervenfasern im Zentralen Nervensystem – Gehirn, Sehnerv oder Rückenmark – ziehen oft lebenslange und schwerwiegende Behinderungen nach sich. Verschiedene Gründe für die ausbleibende Heilung der Nerven sind bekannt; ihre Behandlung führte bisher aber dennoch nicht zu durchschlagenden Erfolgen. Ein Forschungsteam der Ruhr-Universität Bochum (RUB) hat eine Entdeckung gemacht, die das teilweise erklären könnte und Ansätze für neue Medikamente möglich macht: Nerven setzen am Ort der Verletzung einen Lockstoff frei, der wachsende Nervenfasern anzieht und so dort gefangen hält. Dadurch können sie nicht in die richtige Richtung wachsen, um die Verletzung zu überbrücken. Das Team der Zellphysiologie um Prof. Dr. Dietmar Fischer berichtet in der Zeitschrift Proceedings of the National Academy of Science PNAS vom 25. Mai 2021, online vorab.

Es muss eine weitere Ursache geben

Drei wesentliche Ursachen für die Regenerationsunfähigkeit verletzter Nerven des Zentralnervensystems, kurz ZNS, waren bislang bekannt: Die unzureichende Aktivierung eines Regenerationsprogramms in verletzten Nervenzellen, welche das Faserwachstum anregt, die Ausbildung einer für Nervenfasern nur schwer zu durchdringenden Narbe an der Verletzungsstelle und eine hemmende Wirkung von Eiweißmolekülen im Nerven auf nachwachsende Nervenfasern, sogenannte Axone. „Wenngleich man in den vergangenen Jahrzehnten experimentelle Ansätze gefunden hat, auf diese einzelnen Aspekte therapeutisch einzugehen, zeigten selbst kombinatorische Ansätze nur einen mäßigen Erfolg“, so Dietmar Fischer. „Es muss also noch weitere, bisher unbekannte Ursachen dafür geben, warum Nervenfasern im ZNS nicht regenerieren.“

Sein Team konnte nun am Modell des Sehnervs eine weitere, für die Forschenden überraschende Ursache für das Ausbleiben der Regeneration im ZNS zeigen. Der zugrunde liegende Mechanismus basiert nicht wie bei den bisher bekannten Gründen auf einer Hemmung des Faserwachstums, sondern vielmehr auf einer positiven Wirkung eines Proteins an der Verletzungsstelle des Nervs. Dieses Molekül ist ein sogenanntes Chemokin mit der Bezeichnung CXCL12. „Das Protein fördert eigentlich das Wachstum von Axonen und lockt regenerierende Fasern an. Es ist also chemoattraktiv“, erklärt Fischer. Genau diese Eigenschaft entpuppte sich aber bei der Regeneration im lebenden Tier als großes Problem.

Gefangene Nervenfasern

Die Bochumer Forschenden konnten zeigen, dass dieses Protein an der Verletzungsstelle im Nerven freigesetzt wird und somit die Axone durch den chemoattraktiven Effekt an der verletzten Stelle hält. Einige Fasern, die bereits über die Verletzungsstelle hinweg regeneriert waren, wechselten dadurch sogar die Richtung und wuchsen wieder zurück zur Verletzungsstelle. Die nachwachsenden Fasern blieben also durch die Anziehung von CXCL12 an der Verletzungsstelle gefangen.

Das Bochumer Autorenteam: Dr. Marco Leibinger, Dr. Alexander Hilla und Prof. Dr. Dietmar Fischer (von links).
© RUB, Marquard

Die Forscher kamen diesem Effekt auf die Schliche, als sie den Rezeptor für CXCL12, der CXCR4 genannt wird, gezielt in den Nervenzellen der Netzhaut eliminierten und damit blind für dieses Protein machten. „Überraschenderweise führte dies zu einem stark gesteigerten Faserwachstum in den verletzten Sehnerven, und Axone zeigten ein deutlich geringeres Zurückwachsen zur Verletzungsstelle“, berichtet Dietmar Fischer.

Ansatzpunkt für neue Medikamente

Die Forschenden gingen daraufhin der Frage nach, woher das CXCL12 an der Verletzungsstelle stammt. Dabei fanden sie heraus, dass etwa acht Prozent der Nervenzellen in der Netzhaut selbst dieses Protein produzieren, es entlang ihrer Fasern zur Verletzungsstelle im Sehnerven transportieren und es dort aus den durchtrennten Axonen freisetzen. „Es ist noch völlig unbekannt, warum einige dieser Nervenzellen CXCL12 und andere den Rezeptor bilden“, so Fischer. „Wir kennen die physiologische Rolle des Proteins noch nicht, sehen aber, dass es für die Reparatur des Nervensystems sehr hinderlich ist.“

In weiterführenden Experimenten zeigten die Bochumer Wissenschaftler, dass auch die Ausschaltung von CXCL12 selbst in den Nervenzellen der Netzhaut gleichermaßen die axonale Regeneration in den Sehnerv verbesserte. „Diese neuen Erkenntnisse eröffnen uns nun die Möglichkeit, pharmakologische Ansätze zu entwickeln, die darauf abzielen, die Interaktion von CXCL12 und seinem Rezeptor auf den Nervenfasern zu stören, um diese aus ihrer Gefangenschaft an der Verletzungsstelle zu befreien“, so Fischer. Ob ähnliche Ansätze auch in anderen Bereichen des verletzten Gehirns oder Rückenmarks die Regeneration von Axonen fördern können, ist Gegenstand aktueller Untersuchungen seines Teams am Lehrstuhl für Zellphysiologie.

Förderung

Die Arbeiten wurden durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft gefördert.

Originalveröffentlichung

Alexander M. Hilla, Annemarie Baehr, Marco Leibinger, Anastasia Andreadaki, Dietmar Fischer: CXCR4/CXCL12-mediated entrapment of axons at the injury site compromises optic nerve regeneration, in: PNAS, 2021, DOI: 10.1073/pnas.2016409118

Pressekontakt

Prof. Dr. Dietmar Fischer
Lehrstuhl für Zellphysiologie
Fakultät für Biologie und Biotechnologie
Ruhr-Universität Bochum
Tel.: +49 234 32 29602
E-Mail: dietmar.fischer@rub.de

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Veröffentlicht

Donnerstag
20. Mai 2021
07:34 Uhr

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