Serie Mehr als dicke Bücher
Ein großzügig illustriertes deutsches Manuskript des Artusromans Wigalois © Leiden, University Library, Ltk 537, f. 71v-72r; CC-BY

Literaturwissenschaft Ein Drittel der europäischen Mittelalter-Ritterromane ging verloren

Das fand ein geisteswissenschaftliches Forschungsteam mit Methoden aus der Ökologie heraus.

Ein internationales, interdisziplinäres Forschungsteam hat herausgefunden, dass ein Drittel aller ehemals existierenden mittelalterlichen europäischen Ritterromane im Laufe der Jahrhunderte verloren gegangen und heute unbekannt ist. Für seine Berechnungen verwendete das Team Modelle aus der Ökologie, mit denen seltene Arten gezählt werden. Die Ergebnisse veröffentlichte die internationale Top-Zeitschrift „Science“ am 18. Februar 2022. An der Arbeit beteiligt war unter anderem Dr. Elisabeth de Bruijn, Germanistin an der Ruhr-Universität Bochum und an der Universität Antwerpen.

Die Forschenden hatten die Vermutung, dass die statistischen Methoden zur Zählung seltener Arten in der Ökologie – vor allem jene unbekannten Arten, die von Ökologen in ihren Daten nicht wahrgenommen werden – auch verwendet werden könnten, um die Anzahl der verlorenen literarischen Werke zu schätzen. „So behandelten wir literarische Werke wie eine Spezies in der Ökologie; die erhaltenen Manuskripte als Beobachtungen einer bestimmten Spezies“, sagt Mike Kestemont, Professor für computergestützte Geisteswissenschaften an der Universität Antwerpen.

Verlust nicht in allen Sprachen gleich groß

Das Team aus Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern von zwölf Forschungseinrichtungen berechnete auf diese Weise, dass 32 Prozent aller mittelalterlichen höfischen Romane und anderer Heldengeschichten im Laufe der Jahrhunderte verloren gegangen sind. „Wir haben die Überlebensraten literarischer Werke für sechs mittelalterliche Sprachräume getrennt betrachtet und große Unterschiede innerhalb Europas festgestellt“, erklärt Remco Sleiderink, an der Universität Antwerpen Professor für mittelniederländische Literatur, ein Spezialist für die Fragmentkunde. Das Ergebnis: Etwa 80 Prozent der Werke in deutscher, isländischer und irischer Sprache sind erhalten geblieben, während weniger als 50 Prozent der niederländischen, englischen und französischen Literatur noch bekannt sind.

„Die mittelalterliche deutsche Literatur ist bemerkenswert gut überliefert“, ergänzt Elisabeth de Bruijn. „Im deutschsprachigen Raum sind generell viele Handschriften erhalten geblieben. Dem verdanken sogar mehrere niederländische Ritterromane ihr Überleben, denn einige sind nur aus deutschen Übersetzungen bekannt.“

Gleichmäßige Inselliteratur

Zusätzlich fanden die Forschenden heraus, dass die Literatur auf Inseln wie Island und Irland gleichmäßiger war als in anderen Ländern; sie sprechen von höherer eveness. „Evenness ist ein Konzept, das wir wieder aus der Ökologie ableiten“, erklärt Folgert Karsdorp, Forscher am KNAW Meertens Institute in Amsterdam. „Es bedeutet, dass es eine gleichmäßigere Verteilung von Handschriften über alle Werke hinweg gibt, sodass die Unterschiede zwischen den beliebtesten und den am wenigsten populären Werken geringer sind. Eine gleichmäßigere Verteilung macht ein Kultursystem widerstandsfähiger gegen dramatische Verluste durch äußere Bedingungen wie etwa Bibliotheksbrände.“

Methode auch in anderen Bereichen anwendbar

Das Team glaubt, dass seine Arbeit neue Potenziale für die Erforschung kultureller Artefakte aus der Vergangenheit eröffnet. Denn die eingesetzte Methode wurde nicht speziell für die Ökologie oder die mittelalterliche Literatur entwickelt, sondern ist viel breiter anwendbar. In den historischen Kulturwissenschaften könnte diese Methode genutzt werden, um beispielsweise die Bestände antiker Münzen, verlorene Volksmärchen oder sogar vergessene Maler zu studieren.

Originalveröffentlichung

Mike Kestemont, Folgert Karsdorp, Elisabeth de Bruijn, Matthew Driscoll, Katarzyna A. Kapitan, Pádraig Ó Macháin, Daniel Sawyer, Remco Sleiderink, Anne Chao: Forgotten books: The application of unseen species models to the survival of culture, in: Science, 2022, DOI: 10.1126/science.abl7655

Pressekontakt

Dr. Elisabeth de Bruijn
Germanistisches Institut
Fakultät für Philologie
Ruhr-Universität Bochum
E-Mail: elisabeth.debruijn@rub.de

Veröffentlicht

Freitag
18. Februar 2022
08:55 Uhr

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