Vom Goldnugget zum Gift Die Geschichte des Online-Kommentars
Die Einführung der Kommentarfunktion hat dem Internet eine völlig neue Dimension verliehen. Die Verheißung lautete: Teilhabe für alle. Die Realität ist eine andere.
In früheren Zeiten des Onlinekommentars herrschte eine Art Goldrausch: Kommentare sollten Texte, unter denen sie erschienen, bereichern – auch wenn klar war, dass sich allerhand Nutzloses unter den Beiträgen der Userinnen und User finden würde. Anbieter von Kommentarfunktionen sprachen noch Ende der 2000er-Jahre von Goldnuggets, die aus der Masse des unschädlichen Unrats gefischt werden müssten. Wie sich die Metaphern und der Umgang mit Onlinekommentaren seit ihrer Erfindung verändert haben, untersucht das Team um Prof. Dr. Johannes Paßmann vom Institut für Medienwissenschaft der Ruhr-Universität Bochum. Das Wissenschaftsmagazin der Ruhr-Universität Rubin berichtet über die Ergebnisse.
Neue Metaphern signalisieren Dringlichkeit
Die Forschenden analysierten beispielsweise die Selbstdarstellungen des Unternehmens „Disqus“ – weltweit einer der größten Anbieter für Kommentarfunktionen, die Kunden in ihre Webseiten einbinden können. Zwischen 2007 und 2021 änderten sich die Metaphern, mit denen Disqus warb, erheblich. In der Zeit der Goldnugget-Metapher warb das Unternehmen damit, dass seine Technik Kunden helfe, Diskussionen anzukurbeln. Später pries Disqus seine Tools als Mittel an, um die Moderation von Diskussionen zu erleichtern. Die Goldnugget-Metapher verschwand, stattdessen kam das Konzept der „healthy communities“ auf, die immun gegen polemische Debatten gewisser Userinnen und User sind.
2016 etablierte sich schließlich der Begriff der „toxischen Kommunikation“, und auch Kriegsmetaphern wie „dass Hassrede bekämpft werden muss“ kamen hinzu. „Wir bezeichnen das als ‚metaphors of urgency‘“, sagt Johannes Paßmann. „Die Wortwahl suggeriert, dass man nicht mehr weitermachen kann wie bisher.“
Software findet Veränderungen im Umgang mit Kommentaren
Das Team der Ruhr-Universität Bochum nähert sich der Geschichte des Onlinekommentars aber noch auf andere Weise. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler arbeiten mit großen Datensätzen aus dem Internet Archive, das Aufzeichnungen von Webseiten aus der Vergangenheit enthält. Martina Schories, Mitarbeiterin im Team von Johannes Paßmann, programmierte eine Software, die in den archivierten Seiten automatisiert nach Updates in den Kommentarfunktionen sucht. Diese Stellen schauen sich die Forschenden dann genauer an. „Bei einer großen deutschen Tageszeitung fiel uns etwa auf, dass sie irgendwann anfing, die Kommentarfunktion nachts abzustellen“, gibt Paßmann ein Beispiel.
Interviews mit Kommentar-Verantwortlichen beleuchten Hintergründe
Solche Erkenntnisse nutzen er und seine Kollegin Lisa Gerzen, um Interviews zu führen, beispielsweise mit ehemaligen Mitarbeitenden aus Zeitungsredaktionen, die für die Kommentare auf den Seiten des Mediums verantwortlich waren. So spüren sie die Geschichten hinter den automatisiert gefundenen Veränderungen in den Kommentarfunktionen auf. Was hinter der nächtlichen Abschaltung der Kommentare steckte, verrät Johannes Paßmann in Rubin.