Schmerzgedächtnis Warum Schmerz beim Lernen die Überholspur nimmt
Schmerz lernt man schneller und nachhaltiger als anderes. Mit Blick auf die Evolution ergibt das Sinn. Für Menschen mit chronischem Schmerz ist es ein Problem.
„Wir sehen jeden Tag Patient*innen, die gelernt haben, den Schmerz zu erwarten und zu fürchten“, sagt Prof. Dr. Ulrike Bingel. Die Professorin für Klinische Neurowissenschaften leitet die universitäre Schmerzmedizin im Universitätsklinikum Essen. In verschiedenen experimentellen Studien geht sie mit ihrem Team dem Zusammenhang zwischen Schmerz und Lernprozessen auf den Grund. Die Forschenden konnten bereits nachweisen, dass Schmerz schneller gelernt wird als andere unangenehme Reize und dass die Steigerung von Schmerz leichter erlernbar ist als die Milderung. Darüber berichtet Rubin, das Wissenschaftsmagazin der Ruhr-Universität Bochum, in seiner Sonderausgabe zum Sonderforschungsbereich Extinktionslernen.
Im Rahmen des Sonderforschungsbereichs, in dem Forschende der Ruhr-Universität Bochum und der Universität Duisburg-Essen kooperieren, führen die Teams verschiedene Experimente durch. Immer geht es dabei darum, wie und welche Menschen lernen, einen neutralen Reiz damit zu verbinden, dass ihm ein Schmerzreiz folgt, beziehungsweise zu lernen, dass diesem Reiz eben kein Schmerz mehr folgen wird. Um in den Versuchen einen Schmerzreiz zu verabreichen, nutzen die Forschenden eine sogenannte Thermode: ein Metallplättchen, das auf der Haut des Unterarms befestigt wird und sich erhitzen und abkühlen lässt. Im Vorfeld jedes Versuchs bestimmt das Forschungsteam die individuelle Schmerzschwelle der Teilnehmenden.
Was macht Schmerz besonders?
Das Team untersuchte mit dieser Herangehensweise zum Beispiel, ob das Lernen von Schmerz sich grundsätzlich vom Lernen anderer unangenehmer Reize unterscheidet. Sie koppelten einen neutralen Reiz – eine geometrische Form – an einen Hitzeschmerz oder an einen unangenehmen Ton. Mit physiologischen Messungen, Befragungen und funktioneller Kernspintomografie maßen sie die jeweiligen Lerneffekte. „Wir konnten damit zeigen, dass die Verbindung zwischen Bild und Schmerz schneller und stärker gelernt wurde als die Verbindung zwischen Bild und Ton“, berichtet Dr. Katharina Schmidt, Co-Projektleiterin gemeinsam mit Ulrike Bingel. „Evolutionär ergibt es durchaus einen Sinn, dass das Schmerzlernen sozusagen die Überholspur nimmt“, sagt Ulrike Bingel. „Nach dem Motto ‚Lieber Vorsicht als Nachsicht‘ konnten sich unsere Urahnen so vermutlich vor lebensgefährlichen Bedrohungen am besten schützen.“
Um tiefer ins Detail vorzudringen, entwarf die Gruppe ein weiteres experimentelles Szenario für Patient*innen mit chronischen Rückenschmerzen und gesunde Kontrollpersonen, diesmal mit der Möglichkeit, Schmerz abgestuft einzusetzen, und ebenfalls mit begleitender Bildgebung. Darüber hinaus untersuchten die Forschenden, ob sich das Lernen der Verbindung von Reiz und Schmerz zwischen gesunden Menschen und Personen mit chronischem, unspezifischem Rückenschmerz unterscheidet.