Neurowissenschaft Menschen sind beweglicher, als sie glauben
Wenn es darum geht, die eigene Beweglichkeit einzuschätzen, entpuppt sich das Gehirn als notorisch pessimistisch.
Menschen können ihr Handgelenk weiter verbiegen, als sie denken. Das haben Forschende der Ruhr-Universität Bochum und der Université catholique de Louvain herausgefunden. Sie baten 87 Personen zu schätzen, wie weit sie ihre Hand in verschiedene Richtungen bewegen können. Die Probandinnen und Probanden gaben die Beweglichkeit ihres Handgelenks systematisch geringer an, als sie tatsächlich war. „Das Gehirn hat offensichtlich kein präzises Bild von den Grenzen der Beweglichkeit“, resümiert der Bochumer Neurowissenschaftler Dr. Artur Pilacinski. Die Ergebnisse beschreibt er gemeinsam mit Antoine Vandenberghe, Gabriella Andrietta und Prof. Dr. Gilles Vannuscorps in der Zeitschrift „Communications Psychology“ vom 1. November 2024.
Menschen haben ein verzerrtes Körperbild
„Frühere Studien von anderen Gruppen haben bereits gezeigt, dass Menschen ein verzerrtes Körperbild haben“, erklärt Pilacinski. „Sie unterschätzen zum Beispiel systematisch das Gewicht oder die Größe ihrer Hände. Uns hat interessiert, ob es einen ähnlichen Bias auch für Körperbewegungen gibt.“
Die Forschenden untersuchten Handgelenksbewegungen in vier verschiedene Richtungen. Ein Teil der Probandinnen und Probanden sollte sich die verschiedenen Handbewegungen mental ausmalen und angeben, bis zu welchem Punkt die Bewegung maximal möglich wäre. Ihre Antwort zeigten sie auf einem Winkelmesser an. Die übrigen Teilnehmenden bekamen verschiedene Positionen auf dem Winkelmesser gezeigt und mussten für jede davon entscheiden, ob sie sie durch Biegung ihres Handgelenks erreichen könnten oder nicht. Abschließend wurde von allen Probandinnen und Probanden die tatsächliche Beweglichkeit in die vier Richtungen gemessen: Sie mussten ihre Hand nach innen und außen in Richtung des Unterarms biegen sowie das Handgelenk in Richtung des Daumens oder des kleinen Fingers kippen.
Systematisch unterschätzt
Für drei dieser vier Handbewegungen zeigte sich ein signifikanter Unterschied zwischen der angenommenen und der tatsächlichen Beweglichkeit. Die Teilnehmenden unterschätzten ihre Beweglichkeit um durchschnittlich mindestens zehn Grad. Lediglich für die Bewegung in Richtung des Daumens ergab sich kein signifikanter Unterschied. „Vermutlich, weil das Handgelenk in diese Richtung am wenigsten dehnbar ist und die Differenz zwischen vermuteter und tatsächlicher Beweglichkeit zu klein war, um mit unserer Methode messbar zu sein“, schätzt Artur Pilacinski.
Menschen sind sich der wahren Grenzen ihrer Beweglichkeit also nicht bewusst. „Über die Gründe können wir nur spekulieren“, sagt Pilacinski. „Am wahrscheinlichsten ist, dass uns dieser Bias vor Verletzungen schützt, weil wir so nicht über das Ziel hinausschießen. Wir müssen zwar im Bewegungsablauf kleine Korrekturen machen, aber dafür werden unsere Muskeln, Sehnen und Bänder geschont.“
Einen möglichen Nutzen dieser Erkenntnis sieht der Wissenschaftler im Bereich des Spitzensports oder der Reha, wo Menschen bewusst an die Grenzen ihrer Beweglichkeit gebracht werden. Zu wissen, dass das vermutete Limit nicht das reale ist, könnte helfen, sich die eigenen Grenzen der Beweglichkeit besser vorzustellen und letztendlich eine bessere Beweglichkeit zu erzielen.