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Was Brücken über sich selbst wissen könnten
Stau auf der Autobahn 1 ist derzeit ein übliches Bild. An der Leverkusener Rheinbrücke knubbelt es sich; zwei Fahrsteifen sind gesperrt, es besteht ein Geschwindigkeitslimit von 60 Stundenkilometern und ein Fahrverbot für LKW über dreieinhalb Tonnen – Sicherheitsmaßnahmen, weil die Brücke marode ist. Sie muss aufwendig saniert werden, um noch lange genug zu halten, bis ein Ersatz gebaut ist. Konnte man das Problem nicht früher kommen sehen?
In Zukunft vielleicht ja, meinen RUB-Ingenieure. Sie entwickeln mathematische Modelle, mit denen sich die Lebensdauer von Bauwerken vorhersagen lässt. Das Ziel ist die intelligente Brücke: Sie überwacht kontinuierlich ihren eigenen Zustand und schlägt Alarm, sobald sich kritische Schäden abzeichnen.
Warum Bauwerke ermüden
Temperaturschwankungen, Wind, Verkehr, Unfälle und ganz natürliche Alterungsprozesse setzen Bauwerken auf Dauer zu. Am Lehrstuhl für Massivbau erforschen Dr. Mark Alexander Ahrens und David Sanio, unter welchen Einflüssen die Baumaterialien am stärksten ermüden und wie genau sich die Lebensdauer von Brücken mit mathematischen Modellen voraussagen lässt.
Zu diesem Zweck haben sie zweieinhalb Jahre lang eine Hochstraße in Düsseldorf, die Pariser Straße im Heerdter Dreieck, untersucht. Da das Bauwerk abgerissen und neu errichtet wurde, konnten die Ingenieure es bis ins tiefste Innere erforschen und kurz vor der Sprengung auch noch Versuche auf der für Verkehr gesperrten Fahrbahn durchführen.
Ziel war es unter anderem, ein zuvor entwickeltes Modell zur Bestimmung der Lebensdauer von Brücken zu verfeinern. Dieses Modell beruhte zunächst auf allgemeinen Annahmen, die nicht unbedingt an jedem Ort in Deutschland zutreffen müssen. Ein Beispiel: Die Anzahl von LKW, die pro Tag eine Brücke überqueren, variiert über die Standorte hinweg. Solche lokalen Unterschiede wurden bislang bei der Berechnung durch generelle Annahmen ersetzt.
Maßgeschneiderte Modelle für die Lebensdauerprognose
Die Bochumer Forscher wollten wissen, wie viel genauer die Prognose werden kann, wenn sie das Modell auf ein bestimmtes Bauwerk maßschneidern. Zu diesem Zweck erfassten sie den aktuellen Zustand der Baumaterialien der Pariser Straße, die Verkehrsbelastung sowie die Umweltbedingungen.
Für ihre Versuche betrachteten Ahrens und Sanio nur die Ermüdung des hochfesten Spannstahls, nicht die des Betons. Die untersuchte Hochstraße ist als vorgespannte Brücke gebaut. Die einzelnen Abschnitte halten dadurch zusammen, dass sie von Spanngliedern aus Stahl zusammengedrückt werden. Ungefähr so, als würde man einen Stapel Bücher vor dem Körper festhalten, indem man die Arme von rechts und links dagegen presst. Aufgrund der Länge des Bauwerks werden die einzelnen Spannglieder an bestimmten Stellen gekoppelt. „Es ist bekannt, dass die Koppelfugen bei dieser Konstruktion die Schwachstelle sind“, sagt Mark Alexander Ahrens.
Die Ingenieure entfernten an der Pariser Straße einen Teil des Betons, um den darunterliegenden Stahl freizulegen – natürlich mit Genehmigung der Stadt. An den freigelegten Spannstahl brachten sie Dehnungsmessstreifen an und erfassten mehrere Wochen lang, welche Belastung der überfahrende Verkehr für das Bauwerk bedeutete. Gleichzeitig nahmen sie ein Video auf, um die beobachteten Effekte bestimmten Fahrzeugtypen zuordnen zu können.
Anhand dieser Daten bestimmten Ahrens und Sanio, wie viele Fahrzeuge mit welchen Achslasten sich im Versuchszeitraum über die Brücke bewegten. Dabei stellte sich heraus, dass die Pariser Straße von weniger LKW genutzt wird als erwartet. Die deutschlandweiten Standarddaten unterstellten hier also eine übermäßige Nutzung und somit eine kürzere rechnerische Lebensdauer, als die Hochstraße in Wirklichkeit gehabt hätte.
PKW spielen für die Berechnung der Lebensdauer keine Rolle.
Die hohen Lasten, die ein Bauwerk aushalten muss, sind maßgeblich für seine Lebensdauer. Aber was ist eigentlich mit leichteren Fahrzeugen? „PKW spielen für die Berechnung keine Rolle“, erklärt David Sanio. „Für die Ermüdung sind die weniger häufigen, aber hohen Lasten entscheidend.“
Ein LKW hat rein rechnerisch den gleichen Einfluss auf das Bauwerk wie 100.000 PKW. Fahrzeuge mit Gewichten bis zu fünf Tonnen muss man laut Ahrens nicht genauer betrachten. Interessant sind LKW, die in Deutschland mit bis zu 40 Tonnen zugelassen sind, und vor allem auch Schwertransporte.
Überladene Fahrzeuge sind nicht selten
„Jeden Tag sind auf vielen Strecken genehmigungspflichtige Schwertransporte unterwegs, die 250 Tonnen geladen haben können“, sagt der RUB-Forscher. „Das geschieht nachts, wenn wir schlafen, also bekommen wir es nicht mit. Aber für die Brücke ist es egal, wann es passiert. Es zählt nur, dass es passiert.“ Und das tut es immer häufiger. Die Zahl der Zulassungen für Schwertransporte ist in den letzten Jahren exponentiell gestiegen; auch LKW-Fahrten werden häufiger. „Nicht selten sind die Fahrzeuge auch überladen“, weiß Ahrens.
Neben dem Verkehrsaufkommen war auch die Temperatur für die Lebensdauer der Hochstraße in Düsseldorf entscheidend. Sanio und Ahrens maßen sie über mehrere Wochen an verschiedenen Stellen im Beton und stellten fest: Die Sonne scheint ungleichmäßig auf das Bauwerk, dadurch entsteht im Inneren ein starker Temperaturgradient. Das erzeugt Spannungen im Material, die sich mit dem Einfluss der Lastkraftwagen überlagern und verstärken. Auch dieses Ergebnis zeigt, wie wichtig es ist, das Modell auf die lokalen Gegebenheiten anzupassen.
Das RUB-Team verfeinerte es noch mit weiteren Daten. Nachdem die Pariser Straße stillgelegt worden war, untersuchten die Forscher in Kooperation mit der Stadt Düsseldorf, wie stark einzelne Lasten die Brücke verformen. Dazu positionierten sie einen LKW mit bekanntem Gewicht an verschiedenen Stellen und bestimmten mit einem präzisen Nivellier, einem Höhenmessgerät, wie sehr sich das Bauwerk dabei durchbog. Dies diente der Qualitätssicherung des Berechnungsmodells.
Wie schnell die Materialien ermüden, überprüften Ahrens und Sanio in Labortests an der RUB. Sie nahmen Stahlproben, die sie mehrere Millionen Mal be- und entlasteten. Die so gewonnenen Erkenntnisse über die Materialeigenschaften flossen ebenfalls in das Modell ein.
Mit dem verfeinerten Modell berechnete die Gruppe vom Lehrstuhl für Massivbau erneut, wie lang die Hochstraße in Düsseldorf noch gehalten hätte. Der Unterschied zur ersten Prognose mit dem allgemeineren Modell war beträchtlich. Wenn sie die lokalen Gegebenheiten in die Berechnungen einbezogen, ergab sich eine 14-mal längere Lebensdauer.
Pariser Straße nicht mehr zu retten
Das kann die Pariser Straße allerdings auch nicht mehr retten. Aufgrund umfangreicher Umbauarbeiten und einer veränderten Verkehrsführung im Heerdter Dreieck existiert sie inzwischen nicht mehr. „Die Brücke ist gesprengt worden“, erzählt Mark Alexander Ahrens. „Wir sind extra an einem frühen Sonntagmorgen hingefahren. Aber es war so nebelig, dass wir nur einmal ‚Rumms‘ gehört haben. Gesehen haben wir nichts.“
Durch die Versuche am Lehrstuhl für Massivbau und auch in Kooperation mit anderen Instituten ist im Lauf der Zeit ein Fundus an Algorithmen zusammengekommen, die die unterschiedlichen Einflüsse beschreiben, denen ein Bauwerk ausgesetzt sein kann. Wie aus einem Baukasten können sich die Ingenieure die Algorithmen für den jeweiligen Fall passgenau zusammenstellen.
Um die Lebensdauer einer bestimmten Brücke vorhersagen zu können, muss dann noch ein geometrisches Modell des jeweiligen Bauwerks erstellt werden. Ziel ist es, dass Brücken diese Berechnungen eines Tages sogar selbst anstellen. Dafür fehlt es hauptsächlich noch an Langzeiterfahrung mit der Messtechnik.
Die Messtechnik ist derzeit aber noch nicht ausreichend langzeiterprobt.
Damit ein Bauwerk kontinuierlich seinen eigenen Zustand überwachen könnte, müsste es idealerweise schon beim Bau mit Temperatur- und Dehnungssensoren ausgestattet werden sowie mit einem Zähler, der individuelle Verkehrsdaten aufzeichnet. „Die Messtechnik ist derzeit aber noch nicht ausreichend langzeiterprobt“, erklärt Sanio. „Sie funktioniert gut für Wochen oder Monate, aber dann kommt große Unsicherheit hinzu.“
Mark Alexander Ahrens ergänzt: „Eine intelligente Brücke muss ich nicht nur so bauen, dass ich eine Kommunikation zwischen dem Messgerät und dem Ingenieur habe, sondern auch so, dass das in 100 bis 200 Jahren noch funktioniert. Aber wer weiß, vielleicht haben wir bis dahin eine andere Lösung für unsere Transportaufgaben gefunden und brauchen gar keine Brücken mehr.“
Mark Alexander Ahrens meint: Gigaliner wiegen zwar mehr als herkömmliche LKW. Aber durch ihren Aufbau liegen die einzelnen Achslasten unter denen der Lastmodelle, die wir heute ansetzen. Zum Schutz der Gigaliner muss man also sagen, dass sie wahrscheinlich weniger Einfluss hätten, als wir das rechnerisch unterstellen würden. Ich würde also nicht vehement sagen, wir dürfen uns keine Gigaliner erlauben. Man muss im Einzelfall prüfen, welche Strecken für sie geeignet sind und ob es einzelne Bauwerke gibt, für die sie eine Mehrbelastung wären. Es ist eine Planungsgeschichte.
4. Mai 2015
14.25 Uhr