Baoquan Song: Nach Spuren ehemaliger Kulturstätten aus der Luft zu suchen ist seine Leidenschaft. © RUB, Marquard

Reportage Unterwegs mit einem Luftbildarchäologen

Regelmäßig steigt Baoquan Song mit seinem Flugzeug auf, um Spuren ehemaliger Kulturstätten zu suchen. Aus der Luft offenbaren sich Einblicke, die am Boden unmöglich wären.

Angst vor dem Fliegen habe ich nicht. Trotzdem ist mir nicht ganz klar, was mich erwartet, wenn ich zu Dr. Baoquan Song ins Flugzeug steige. Bei unserer gemeinsamen Tour über das Ruhrgebiet möchte ich für Rubin herausfinden, was es bedeutet, Luftbildarchäologe zu sein.

Eines erkenne ich sehr schnell: Dieser Job hat naturgemäß nicht nur viel mit Fliegerei zu tun, sondern auch viel mit Fahrerei. Bevor wir abheben können, müssen wir von Bochum nach Marl zum Flugplatz Loemühle gelangen. Auf der Autobahn 43 stehen wir erst einmal im Stau.

Es macht einfach süchtig, nach Spuren von ehemaligen Kulturstätten aus der Luft zu suchen.


Baoquan Song

„Es macht einfach süchtig, nach Spuren von ehemaligen Kulturstätten aus der Luft zu suchen“, erzählt Baoquan Song, während wir warten. Ebenso wie das Fliegen. Das sei zwar anstrengend, aber: „Wenn man einmal geflogen ist, will man es immer wieder tun. Es macht sehr viel Spaß.“

Seit 20 Jahren entdeckt und dokumentiert der 54-jährige gebürtige Chinese aus der Luft vorgeschichtliche Siedlungen, Gräber, römische Militärlager, mittelalterliche Burgen, Wege und andere Objekte. Heute darf ich hautnah miterleben, wie er dabei vorgeht.

Handarbeit vor dem Start

Am Flugplatz Loemühle beginnt die Arbeit mit einem Kraftakt. Die weiß-grüne Propellermaschine muss zunächst über eine Schwelle aus dem Hangar geschoben werden. Mit ihren nur vier Sitzen sieht sie zwar zierlich aus, wiegt jedoch immerhin eine Tonne. Da hier am Flugplatz aber scheinbar jeder jeden kennt, eilt schnell Hilfe herbei.

Draußen steht unsere Cessna 172 im strahlenden Sonnenschein. Es ist einer dieser goldenen Herbsttage, auf den wir für unseren Flug gehofft hatten. Da es schon 15 Uhr ist und die Sonne recht tief steht, wollen wir keine Zeit verlieren.

Die rund eine Tonne schwere Cessna 172 muss von Hand aus dem Hangar geschoben werden. © RUB, Marquard

Über einen schmalen Tritt auf der Metallstrebe, die den Flügel stützt, klettern wir in die Maschine. Routiniert erledigt Baoquan Song einige Flugvorbereitungen, stattet mich mit Kopfhörern aus und checkt unsere Funkverbindung. Er ist es gewohnt, Passagiere mitzunehmen. Im Rahmen von Lehrveranstaltungen weiht er immer wieder Studierende in die Geheimnisse der Luftbildarchäologie ein, wovon er mit Enthusiasmus erzählt.

Aber zwischendurch ist er auch gern allein unterwegs. „Dann kann ich steilere Kurven fliegen, ohne dass den Passagieren der Mageninhalt nach oben geht“, sagt Song und verrät, dass ihm anfangs beim Fliegen immer schlecht geworden ist. „Also geben Sie bitte sofort Bescheid, wenn es Ihnen nicht gut geht.“ Wieder einmal frage ich mich, was mich eigentlich erwartet.

Letzte Vorbereitungen

Baoquan Song startet den Motor. Ein lautes Röhren und Knattern dringt durch die Kopfhörer an meine Ohren. Die Maschine wackelt und vibriert, so dass ich überlege, wie ich jemals ein leserliches Wort zu Papier bringen soll, wenn ich mir Notizen machen möchte.

Während mein Pilot eine Reihe von Knöpfen, Schaltern und Hebeln betätigt, studiere ich die zahlreichen Instrumente vor uns. Ein paar wirken vertraut, ein Kompass, eine Höhenanzeige, ein Geschwindigkeitsmesser. Aber es gibt noch viele andere, die mir gar nichts sagen.

Wenn ich fliege, muss ich vier Jobs gleichzeitig übernehmen: Pilot, Navigator, Archäologe und Fotograf.


Baoquan Song

Ich erinnere mich an etwas, das Song mir auf der Hinfahrt erzählt hat: „Wenn ich fliege, muss ich vier Jobs gleichzeitig übernehmen: Pilot, Navigator, Archäologe und Fotograf.“ Er schnallt sich mit einem elastischen Klettverschlussband ein Notizbuch um das Bein, hängt die Spiegelreflexkamera mit Teleobjektiv um den Hals und greift zum Steuer. Langsam setzen wir uns in Bewegung und rollen zur Startbahn.

Wir heben ab

Song nimmt Funkkontakt mit dem Tower auf, was sich mit einem lauten Rauschen und Knistern in meinen Kopfhörern bemerkbar macht. Wir erhalten aktuelle Informationen über Windstärke und -richtung, dann nehmen wir Geschwindigkeit auf und heben ab. Die Sonne gleißt, blendet uns, aber lässt auch die Landschaft unter uns in malerischen Herbstfarben leuchten.

Es ist nicht die optimale Jahreszeit, um archäologische Fundstellen aus der Luft zu betrachten, hatte Song mir gesagt. Aber die rot-gelben Wälder sind auf jeden Fall ein fantastischer Anblick. Auf rund 650 Meter Höhe sind wir aufgestiegen, und hier in der Luft fühlt sich die Maschine nun viel ruhiger an.

Wieder erklingt das Rauschen in den Kopfhörern, dann die Stimme meines Sitznachbarn: „Delta-Echo-Echo-Charley-Mike. Cessna 172. Lokalflug von Marl, gerade gestartet. Machen einen Fotoflug und erbitten Verkehrsinformationen.“ Eine zweite Stimme krächzt eine Antwort zurück, die für mich nur bruchstückhaft aus dem Rauschen herauszufiltern ist.

Baoquan Song erklärt, dass wir ab jetzt auf dem Radar-Bildschirm der deutschen Flugsicherung zu sehen sind und Informationen über andere Flugzeuge erhalten, die in unserer Nähe sind. Das hilft, sicher unterwegs zu sein. Denn anders als ein normaler Pilot, kann sich der Luftbildarchäologe nicht nur auf das Fliegen konzentrieren.

Die ersten Spuren zeigen sich

In Olfen finden wir Spuren eines ehemaligen römischen Versorgungslagers. Song deutet mit dem Finger in Richtung eines Getreidefeldes, neigt das Flugzeug zur Seite, klappt das Fenster auf, lässt das Steuer los und richtet die Kamera aus dem Fenster auf eine für mich scheinbar leere Stelle. Wenn ich ehrlich bin, sehe ich nur ein grünes Feld.

Ich konzentriere mich und schaue ganz genau hin. An einer Stelle wirkt das Getreide ein wenig dunkler. Ich bin nicht sicher, ob es das ist, was ich sehen soll. Mir schwant, dass man als Luftbildarchäologe ein extrem geschultes Auge haben muss.

Auf einem Getreidefeld in Olfen zeichnet sich als dunkelgrüne Linie der Umwehrungsgraben eines längst eingeebneten römischen Versorgungslagers ab – schwer erkennbar für das ungeübte Auge. © RUB, Baoquan Song

Allerdings sind manche Spuren auch nur zu bestimmten Jahreszeiten vernünftig sichtbar. Zum Beispiel wenn die Felder hoch bewachsen sind und unter der Oberfläche verborgene alte Mauern das Wachstum der Pflanzen hemmen, so dass ihr Muster im Feld zutage tritt. Oder im Winter, wenn Überreste ehemaliger Bauten im Boden für Temperaturunterschiede sorgen und den Schnee an einigen Stellen schneller oder langsamer schmelzen lassen als an anderen.

Auf diese Weise entdeckte Baoquan Song nördlich von Schermbeck Anfang 2015 Spuren einer Burg, die in keiner historischen Karte verzeichnet war. Genauer gesagt handelte es sich um eine Motte, eine Burg, die mit einem künstlich angelegten Erdhügel eingemottet worden war. Schon einige Jahre zuvor hatte der Luftbildarchäologe südlich der Stadt eine andere Motte entdeckt, die einiges Aufsehen erregte.

Die lang gesuchte Motte von Schermbeck

Im Jahr 2012 entdeckte Baoquan Song am südlichen Rand von Schermbeck Spuren einer alten Burg in einem Maisfeld. Es handelte sich um einen speziellen Burgtyp, Motte genannt. Er wollte den Fund in der Zeitschrift Archäologie in Westfalen-Lippe publizieren, was die Redakteurin nur zähneknirschend hinnahm. Denn sie stellte fest, dass die Fundstelle knapp zum Rheinland gehörte.

In Schermbeck suchte derweil der Vorsitzende des Historischen Vereins intensiv nach einer Motte. Er wusste aus alten Quellen, dass es eine solche Burg in seiner Stadt gegeben haben muss. Durch Zufall las ein Bekannter von ihm Baoquan Songs Artikel. Er hatte die lang gesuchte Motte gefunden, die sich mitten unter einer Baustelle befand, wo in Kürze neue Gebäude entstehen sollten. Der Bau wurde gestoppt und Anfang 2014 eine Grabung eingeleitet. Unter der Motte fand das Grabungsteam eine frühmittelalterliche Siedlung, die sich als einzigartiger Fund im Rheinland herausstellte.

Nun kreisen wir über der Fundstelle, die der Schnee zutage gefördert hatte. Die Motte ist nicht so gut zu sehen wie zur Winterzeit, aber selbst für das ungeübte Auge offenbaren sich erkennbare Spuren im Gras.

Im Schnee (rechts) entdeckte Baoquan Song Anfang 2015 eine ehemalige Burg mit Wirtschaftsteil – Motte genannt. Bei unserem Flug im Herbst 2015 zeichnen sich die Spuren nicht ganz so deutlich ab (links). © RUB, Baoquan Song

In der sonnenbeschienenen Wiese zeichnet sich der inzwischen nahezu komplett verfüllte Graben der Vorburg als schmale dunkle Vertiefung ab. Landwirtschaft wurde hier betrieben, es gab Speicher und Werkstätten, und das Vieh lebte in diesem Wirtschaftsteil der Burg. Etwas schwerer auszumachen sind die kreisrunden Spuren der eigentlichen Motte, die im Schatten liegen.

Fotografieren aus der Luft: eine Herausforderung

Song kippt die Maschine in einen steileren Winkel und öffnet das Fenster, so dass er fast senkrecht nach unten fotografieren kann. Zwischendurch greift er kurz ans Steuer, korrigiert den Kurs, dann fotografiert er wieder, korrigiert, fotografiert.

Zehn bis 20 Bilder pro Fundstelle macht er. Insgesamt kommen in einem Jahr rund 20.000 Fotos zusammen, die er alle archivieren muss. Jedes Objekt dokumentiert er mehrmals im Verlauf des Jahres. Denn stets können neue Details zutage treten, die zuvor nicht sichtbar waren.

Wenn ich im Winter bei offenem Fenster fotografiere, frieren schnell die Finger ein.


Baoquan Song

Ein frischer Wind weht durch das Fenster hinein. Heute kompensiert der herrliche Sonnenschein die Kälte. Aber im Winter kann es in der kleinen Maschine ganz schön eisig werden. „Wenn ich bei offenem Fenster fotografiere, frieren schnell die Finger ein“, weiß der Forscher zu berichten. Deswegen wollte er sich Handschuhe zulegen – fingerlose, um noch fotografieren zu können. „Aber die Verkäuferin hat gesagt, das sei nur etwas für die Damen“, erzählt er lachend. „Meine Tochter hat sie dann für mich besorgt.“

Überbleibsel aus dem Weltkrieg

Wir drehen ab nach Dorsten. Eine dunkle Linie verläuft unter uns schnurgerade durch ein Maisfeld. „Ein alter Weg“, vermutet Song und macht ein paar Bilder. Man könne ihn gerade nur sehen, weil der Bauer beim Pflügen Material aus tieferen Erdschichten nach oben befördere. „Nach dem nächsten Regen sieht man das nicht mehr“, so der Archäologe. Links und rechts des ehemaligen Weges sind runde Strukturen zu erkennen. „Vermutlich ist es eine alte Eisenbahntrasse, die im Zweiten Weltkrieg bombardiert wurde.“

Es ist beeindruckend, wie allgegenwärtig sich die Vergangenheit zeigt, wenn man die Landschaft von oben betrachtet. Vom Boden aus würde man nichts als Wiesen, Felder und Wälder wahrnehmen. Jeder Ort, den wir ansteuern – es sind zu viele, um sie alle ausführlich zu beschreiben –, erzählt eine Geschichte, die verborgen geblieben wäre, wenn man nicht vom Himmel aus darauf geschaut hätte.

Sonnenuntergang am Flugplatz

Auf dem Rückflug nach Marl haben wir Zeit, den Blick auf die Städte und die Natur im Licht der untergehenden Sonne zu genießen. Wir fliegen über die Autobahn 43 und stellen zufrieden fest, dass sich der Stau inzwischen aufgelöst hat. Als wir landen, dämmert es schon.

Auf dem Flugplatz ist es leerer geworden. Also packe ich mit an, um die Maschine zurück in den Hangar zu schieben. Ich verstehe nun besser, warum Baoquan Song all die Mühen für die Forschung auf sich nimmt: Fliegen und Spuren suchen, das macht Spaß. Und schlecht geworden ist mir zum Glück auch nicht.

Der Flug in Zahlen

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Rund 50 Flüge pro Jahr absolviert Baoquan Song.</li>
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Im Ruhrgebiet gab es im Lauf der Zeit über 400 Burgen.</li>
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20.000 Fotos pro Jahr schießt Baoquan Song.</li>
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Wir sind mit einer Geschwindigkeit von 200 Kilometern pro Stunde geflogen.</li>
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Baoquan Songs längster Flug dauerte elf Stunden am Stück mit nur einem Tankstopp.</li>
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Alle zwei Minuten verbraucht die Cessna 172 einen Liter Flugbenzin.</li>
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Unveröffentlicht

Von

Julia Weiler

Dieser Artikel ist am 2. Mai 2016 in Rubin 1/2016 erschienen. Die gesamte Ausgabe können Sie hier als PDF kostenlos downloaden. Weitere Rubin-Artikel sind hier zu finden.

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