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Nervenzellen mit Licht steuern
Jeder fünfte Mensch leidet statistisch gesehen im Laufe seines Lebens einmal an einer Depression oder Angststörung. Welche Mechanismen diesen Krankheiten zugrunde liegen, ist im Detail unklar. Und das obwohl Forscherinnen und Forscher seit mehr als 60 Jahren die Hypothese verfolgen, dass ein veränderter Spiegel des Botenstoffs Serotonin eine Ursache ist.
Serotoninsystem ist schwer zu verstehen
„Für uns ist es leider unglaublich schwer zu verstehen, wie das Serotoninsystem funktioniert“, sagt Prof. Dr. Olivia Masseck, die seit Ende April 2016 die Juniorprofessur für Hochauflösende Fluoreszenzmikroskopie innehat. Sie möchte dem komplexen System seine Geheimnisse entlocken. Insgesamt 14 verschiedene Rezeptoren gibt es für den Botenstoff Serotonin im Gehirn, und sie kommen in unterschiedlichen Zelltypen vor. Das macht es kompliziert herauszufinden, welche Funktionen die unterschiedlichen Rezeptoren in den unterschiedlichen Zelltypen haben.
Um die Aufgabe solcher Rezeptoren zu ergründen, war es lange Zeit üblich, sie mit Pharmaka zu aktivieren oder zu blockieren und zu beobachten, welche Funktionen dadurch beeinträchtigt werden. Viele Substanzen wirken aber nicht nur an einem Rezeptor, sondern gleich an mehreren. Außerdem können Forscher durch den Einsatz von Pharmaka nicht zwischen Rezeptoren in den einzelnen Zelltypen unterscheiden. „Bislang war es uns auch nicht möglich, die Serotoninsignalwege räumlich und zeitlich hoch aufgelöst zu untersuchen“, fügt Masseck hinzu. Bis die Optogenetik kam.
Diese Methode hat die Neurowissenschaften revolutioniert.
„Diese Methode hat die Neurowissenschaften revolutioniert“, sagt die Forscherin, deren Kollaborationspartner Prof. Dr. Stefan Herlitze einer der Pioniere auf dem Gebiet war. Die Optogenetik erlaubt es, die Aktivität bestimmter Nervenzellen oder Rezeptoren gezielt mit Licht zu steuern. Was nach Science-Fiction klingt, ist Alltag in den neurowissenschaftlichen Laboren der RUB. Masseck: „Vorher waren wir passive Beobachter und konnten die Zellaktivität nur aufzeichnen; jetzt können wir sie gezielt beeinflussen.“
Die Funktion von einzelnen Rezeptoren ergründen
Die Bochumer Forscherin interessiert sich besonders für die Rezeptoren 5-HT1A und 5-HT1B, die sogenannten Autorezeptoren des Serotoninsystems. Sie kommen in serotoninproduzierenden Zellen vor und regulieren dort, wie viel von dem Botenstoff ausgeschüttet wird; das heißt, sie bestimmen, wie hoch der Serotoninspiegel im Gehirn ist.
In einem normalen Organismus werden 5-HT1A und 5-HT1B aktiviert, wenn ein Serotoninmolekül an den Rezeptor bindet. Der Andockvorgang löst eine Kette von Reaktionen in der Zelle aus. Diese Signalkaskade bewirkt unter anderem, dass die Aktivität der Nervenzelle abnimmt und dass sie weniger von dem Botenstoff ausschüttet.
Sehpigmente an Rezeptoren gekoppelt
Olivia Masseck veränderte bestimmte Zellen im Gehirn von Mäusen so, dass sie den 5-HT1A-Rezeptor ganz ohne Serotonin aktivieren konnte. Sie kombinierte ihn mit einem Sehpigment aus der Netzhaut – Opsin genannt. Genauer gesagt nutzte sie blaue oder rote Sehpigmente aus den Zapfen, die für das Farbsehen verantwortlich sind. Auf diese Weise erzeugte sie einen Serotoninrezeptor, den sie mit rotem oder blauem Licht anschalten konnte. So kann die RUB-Forscherin herausfinden, welche Rolle der 5-HT1A-Rezeptor bei Angst und Depression spielt.
Dazu brachte sie das Kombi-Protein aus lichtempfindlichem Opsin und Serotoninrezeptor mithilfe eines unschädlich gemachten Virus in das Gehirn von Mäusen ein. Wie ein Shuttle transportiert er die Erbinformation, die den Bauplan für das Kombi-Protein enthält. Einmal ins Hirngewebe injiziert schleust der Virus das Gen für den lichtaktivierbaren Rezeptor in bestimmte Nervenzellen ein. Dort wird es abgelesen, und der lichtaktivierbare Rezeptor in die Zellmembran eingebaut.
Angst mit Licht abschalten
Mit Licht konnte die Forscherin die Rezeptoren nun in der lebenden Maus beliebig ein- und ausschalten. Sie analysierte, welchen Einfluss diese Manipulation auf das Verhalten der Tiere in einem Angsttest hatte, dem Open-Field-Test. Dabei setzte sie einzelne Mäuse in eine große, leere Plexiglasbox.
Normalerweise halten sich die Tiere nicht gerne in der hell erleuchteten Mitte der Box auf, da es dort keine Deckung gibt. Sie verbringen stattdessen die meiste Zeit in der Nähe der Wände. Schaltete Olivia Masseck den Rezeptor 5-HT1A mit Licht an, änderte sich das Verhalten der Mäuse. Sie waren weniger ängstlich und verbrachten mehr Zeit in der Mitte der Plexiglasbox.
Diese Ergebnisse bestätigten sich in einem weiteren Test. Bei diesem maß Olivia Masseck die Zeit, die die Mäuse brauchten, um ein Futterpellet in der Mitte einer großen Plexiglasbox zu fressen. Normale Tiere warteten sechs bis sieben Minuten, bis sie sich ins Zentrum zum Fressen trauten. Mäuse mit angeschaltetem Serotoninrezeptor fraßen bereits nach ein bis zwei Minuten. „Das ist für uns ein wichtiger Hinweis, dass der 5-HT1A-Rezeptor-Signalweg im Serotoninsystem etwas mit Angst zu tun hat“, schlussfolgert Masseck.
Als Nächstes möchte die Forscherin herausfinden, wie sich die Aktivierung des 5-HT1A-Rezeptors auf depressives Verhalten auswirkt. „Wenn die Tiere chronischem Stress ausgesetzt sind, können sie ähnliche Symptome wie Menschen mit Depression entwickeln“, beschreibt Masseck. „Sie ziehen sich zum Beispiel aus sozialen Interaktionen zurück.“
Allerdings trifft das nur auf einen Teil der Mäuse zu – wie bei Menschen. „Nicht jede Person, die chronisch gestresst ist oder schlimme Situationen erlebt, entwickelt eine Depression“, weiß Masseck. Was passiert also im Serotoninsystem von Tieren, die anfällig für eine Depression sind, im Vergleich zu dem von Tieren, die keine depressiven Symptome entwickeln? Das möchte die Forscherin herausfinden; zum einen mit den oben beschriebenen optogenetischen Methoden, zum anderen arbeitet sie gerade an einem speziellen Serotoninsensor.
Um möglichst detaillierte Einblicke zu gewinnen, wie Angst und Depression entstehen, sucht Olivia Masseck kontinuierlich nach neuen Methoden. So arbeitet sie mit ihren Studierenden zum Beispiel an einem Sensor, der den Serotoninspiegel im Gehirn in Echtzeit anzeigen kann. Eine Idee ist, eine abgewandelte Form eines grün fluoreszierenden Proteins in einen Serotoninrezeptor zu integrieren.
Dieses Protein leuchtet nur dann grün, wenn es in einer bestimmten räumlichen Struktur vorliegt. Wenn ein Serotoninmolekül an einen Rezeptor bindet, ändert dieser seine dreidimensionale Konformation. Ziel ist es, das fluoreszierende Protein so in den Rezeptor einzubauen, dass sich seine räumliche Struktur gemeinsam mit der des Rezeptors ändert, wenn ein Serotoninmolekül bindet – und zwar so, dass das Protein anfängt zu leuchten. Ähnliche Prinzipien wenden Forscher bereits an, um Calciumsignale in Zellen zu messen.
Olivia Masseck geht davon aus, dass ihre Erkenntnisse zu den Schaltkreisen und molekularen Mechanismen von Angst und Depression auf den Menschen übertragbar sind. Denn Mäuse haben ähnliche Zellfunktionen, und ihr Nervensystem ist ähnlich aufgebaut. Die Hirnforscherin erwartet sogar, dass die Optogenetik den Sprung zur Anwendung am Menschen schaffen wird.
Ich bin der festen Überzeugung, dass die Optogenetik in den nächsten Jahrzehnten auch bei Menschen zum Einsatz kommen wird.
„Zellen genetisch zu manipulieren, sodass man sie mit Licht kontrollieren kann, klingt vielleicht nach Science-Fiction“, sagt sie, „aber ich bin der festen Überzeugung, dass die Optogenetik in den nächsten Jahrzehnten auch bei Menschen zum Einsatz kommen wird.“ Sie könne etwa die tiefe Hirnstimulation bei Parkinson-Patienten ersetzen, weil sie eine viel gezieltere Aktivierung der gewünschten Signalwege erlaube. Und dies mit letztlich weniger Nebenwirkungen.
Wir müssen eine Diskussion führen, wofür wir diese Techniken anwenden wollen und wofür nicht.
„Als Erstes wird die Optogenetik aber wohl bei Erkrankungen der Netzhaut zum Einsatz kommen“, meint Olivia Masseck. Es gebe bereits Versuche, in denen Forscher die Sehleistung von blinden Mäusen wiederherstellen konnten.
Dass ihre Forschung auch ethische Fragen aufwirft, ist Olivia Masseck bewusst. „Wir müssen eine Diskussion führen, wofür wir diese Techniken anwenden wollen und wofür nicht“, sagt sie. Ihre Forschung zeigt, wie schnell die Grenzen zwischen Science-Fiction-Filmen und wissenschaftlicher Realität verwischen können.
26. April 2016
09.32 Uhr