Wissenschaftsgeschichte Wie es zu Klonschaf Dolly kam
Im Rückblick sieht es so aus, als wäre die Gewinnung neuen Wissens ein zielgerichteter Prozess. Dass das nicht stimmt, kann Christina Brandt an vielen Beispielen belegen. Eines davon ist die Geschichte des Klonens.
Als 1996 das Klonschaf Dolly geboren wurde, war das Klonen in aller Munde. Öffentlich schien es, als sei die Geburt des prominenten Säugetierklons das i-Tüpfelchen auf jahrzehntelanger Vorarbeit der Forscher, die nun am vorläufigen Ziel ihrer Pläne angelangt waren. Und man spekulierte, wie es nun weitergehen würde auf diesem Weg, womöglich würde es eines Tages Menschenklone geben.
Wie es zum Klonschaf kam, hat Prof. Dr. Christina Brandt im Detail untersucht. Die Wissenschaftshistorikerin, die der Mercator-Forschergruppe „Räume anthropologischen Wissens“ angehört, vollzieht die Entstehung von Wissen in den Lebenswissenschaften nach. Wissenschaftliche Veröffentlichungen, Nachlässe verstorbener Forscher, Notizen aus der Arbeit im Labor, Zeitzeugeninterviews, Zeitungsartikel, Vorträge von Tagungen sind ihre Quellen.
Wie eine Detektivin schlüpft sie in die Haut der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, ergründet ihre Netzwerke, versucht jedes einzelne Detail ihrer Experimente nachzuvollziehen. „Nur so ergibt sich ein genaues Bild“, sagt sie. „Nur die Veröffentlichungen zu lesen blendet zu viele Schritte und Bedingungen des Prozesses der Wissensentstehung aus.“
Äpfel waren die ersten Klone
Den Begriff des „Klons“ kann sie zurückverfolgen bis ins Jahr 1903. Er tauchte zuerst in der Pflanzenzucht auf und meint die ungeschlechtliche Erzeugung von Pflanzen. „Äpfel waren die ersten Klone“, sagt sie. „Es ging um ökonomische Vorteile, eine neue Industrie.“ Erste Patente auf geklonte Nutzpflanzen wurden in den USA in den 1930er-Jahren angemeldet.
Viel später, in den 1950er-Jahren, bedienten sich Embryologen des Klon-Begriffs. Sie arbeiteten an einer Frage, die viel weiter zurückreicht bis in die 1880er- und 1890er-Jahre: Verliert der Zellkern während der Embryonalentwicklung Informationen? Um diese Frage zu klären, entwickelten Forscher in den USA und Großbritannien eine neue Technik. John Gurdon, der 2012 gemeinsam mit Shin’ya Yamanaka mit dem Nobelpreis für Medizin ausgezeichnet wurde, schaltete den Zellkern in den Eizellen von Krallenfröschen aus und fügte den Zellkern einer anderen, ausdifferenzierten Froschzelle ein. Trotzdem entwickelte sich der Embryo normal. Der Frosch war geklont.
So gelang es in den 1960er-Jahren nachzuweisen, dass der Zellkern seine Informationen eben nicht verliert, sondern über die gesamte Lebensdauer des Frosches behält. „Das war Grundlagenforschung“, unterstreicht Christina Brandt. „Es ging nicht darum, identische Individuen herzustellen.“
Andere Fachkreise entwickeln Visionen
Während die Community der Embryologen noch über die Ergebnisse von John Gurdon debattierte – man war sich über ihren Status noch nicht sicher, da der ursprüngliche Zellkern nicht entfernt, sondern nur ausgeschaltet worden war –, griffen andere Fachkreise das Wissen um die neue Technik auf und begannen bereits weitreichende Zukunftsvisionen zu entwickeln. Das Wissen um die Möglichkeit des Klonens gelangte in die Öffentlichkeit, es verfestigte sich das Bild einer neuen Biomacht. In den 1960er-Jahren veränderte die Biologie in der öffentlichen Wahrnehmung ihren Status dramatisch: Die Molekularbiologie wurde zunehmend als kommende Leitwissenschaft angesehen.
Da hieß es: Ob wir wollen oder nicht, das Klonen wird kommen.
Christina Brandt
„Außerhalb des engsten Fachkreises fehlte das Bewusstsein für die Komplexität dieser Forschung“, schildert Christina Brandt. „Hinzu kommt, dass die 1960er-Jahre die Zeit des optimistischen Fortschrittsglaubens waren. Besonders in den USA wurde eine eigene Dynamik der technischen Zwänge gesehen. Da hieß es: Ob wir wollen oder nicht, das Klonen wird kommen.“ In Deutschland herrschte derweil eine ganz andere, äußerst kritische Sicht auf die Dinge. Hier drängten sich Erinnerungen an NS-Gedankengut auf.
Das Wissen zirkuliert
Die Embryologen wandten sich inzwischen von der Klontechnik wieder ab und widmeten sich Fragen, die durch die Ergebnisse von John Gurdon erst aufgeworfen worden waren: Man kam zu dem Schluss, dass, wenn der Zellkern seine Informationen im Lauf des Lebens niemals verändert, im umgebenden Zytoplasma (zu der Zeit noch unbekannte) Elemente mit Steuerungsfunktionen lokalisiert sein müssen, die bestimmen, welche Informationen zu welchem Zeitpunkt der Embryonalentwicklung abgelesen und umgesetzt werden.
Das Wissen ums Klonen zirkulierte derweil. In den 1980er-Jahren gab es eine politische Debatte ums Klonen, es entstanden erste Gesetzesinitiativen. Die Wissenschaftler, die das Klonen entwickelt hatten, distanzierten sich davon: Ihnen ging es um die Technik, nicht darum Menschen zu klonen.
30 Jahre alte Technik führte zu Dolly
Klonschaf Dolly, das erste geklonte Säugetier in den 1990er-Jahren, ging dann auch nicht auf das Konto von Embryologen. Agrarwissenschaftler bedienten sich der 30 Jahre alten Technik mit der Absicht, sie landwirtschaftlich anzuwenden und tatsächlich gleiche Individuen besonders erfolgreicher Nutztiere herzustellen oder die Klontechnik als Werkzeug für die Herstellung gentechnisch veränderter Organismen zu benutzen.
Die Geschichte des Klonens ist für die Wissenschaftsgeschichte in vielerlei Hinsicht typisch, erläutert Christina Brandt. „Die Entstehung von Wissen ist äußerst lokal, weil das Know-how bei einzelnen Forschern oder Arbeitsgruppen liegt und teure Großgeräte nur an wenigen Orten verfügbar sind. Die Fortentwicklung wird dann häufig durch das Überschreiten von Disziplinengrenzen begünstigt, und sie ist keinesfalls geradlinig“, sagt die Forscherin. „Die Dynamik des Forschungsprozesses wird durch das Changieren von wissenschaftlicher Neugier und technischer Anwendung vorangetrieben. Die Visionäre in Sachen Klonen waren eben nicht die Embryologen, die die Technik entwickelt hatten.“
Typisch ist auch, dass mit großem zeitlichem Abstand vorhandene Techniken für die Anwendung wieder aufgegriffen werden. Manche Forschungszweige werden zu bestimmten Zeiten als regelrecht esoterisch angesehen, erleben dann aber plötzlich einen Boom.
Die Entstehung von neuem Wissen ist oft vollkommen unvorhersehbar.
Christina Brandt
„Die Entstehung von neuem Wissen ist oft vollkommen unvorhersehbar. Das ist natürlich auch ein ethisches Problem. Man kann nie wissen, wofür etwas, das jemand zu einem bestimmten Zweck entwickelt, einmal genutzt werden wird“, so Christina Brandt. Unzählige Faktoren und Zufälle haben einen Einfluss auf die Wissensentstehung. „Gewissheiten, die wir heute zu haben meinen, können in ein paar Jahrzehnten schon längst wieder revidiert oder gar überholt sein. Aber auch die großen Hoffnungen oder gesellschaftlichen Befürchtungen, die zu einem bestimmten Zeitpunkt mit einem Forschungsfeld vehement verhandelt werden, erweisen sich im Gang der Geschichte dann oftmals als hinfällig, während sich plötzlich eine ethische Brisanz in ganz anderen Forschungsbereichen einstellt, die vorab gar nicht diskutiert wurde.“