Ulrich Wiedners Team analysiert nicht nur Daten von Experimenten an Teilchenbeschleunigern. Die RUB-Gruppe baut auch Hardware für neue Beschleuniger. © Roberto Schirdewahn

Physik Exotischer Zuwachs im Teilchenzoo

Hunderte von subatomaren Teilchen sind mittlerweile entdeckt. Aber noch immer verstehen Forscher die einfachsten zusammengesetzten Zustände der Materie nicht.

Über 100 Jahre ist es her, dass Protonen und Elektronen als Bausteine der Materie entdeckt wurden und dass Niels Bohr sein Atommodell vorschlug, in dem die negativ geladenen Elektronen um einen positiv geladenen Kern mit Protonen flitzen. Dennoch sind Forscher weit davon entfernt, erklären zu können, wie Elementarteilchen die festen, flüssigen und gasförmigen Stoffe bilden, die uns umgeben. Unablässig schieben sie die Grenzen des Erforschbaren hinaus, indem sie immer leistungsstärkere Teilchenbeschleuniger bauen, die neue Einblicke in den fundamentalen Aufbau der Materie ermöglichen.

Wie dieses einfachste zusammengesetzte Teilchen funktioniert, verstehen wir nicht.


Ulrich Wiedner

„Wir wissen inzwischen, dass es noch kleinere Bausteine als Protonen im Atomkern gibt, nämlich die Quarks“, sagt Prof. Dr. Ulrich Wiedner, Leiter des Bochumer Lehrstuhls für Experimentalphysik. „Drei Quarks bilden ein Proton – aber wie dieses einfachste zusammengesetzte Teilchen funktioniert, verstehen wir nicht.“

Das Proton, ein Mysterium

Die sogenannte starke Wechselwirkung bindet die drei Quarks im Proton. Verantwortlich dafür sind die Gluonen, eine weitere Sorte von Teilchen, die die Träger der starken Wechselwirkung sind. Aber wie genau es ihnen gelingt, die Quarks zusammenzuhalten, ist bislang ein Rätsel. Und diese Frage ist nicht das einzige Mysterium, das Teilchenphysiker im Hinblick auf das Proton umtreibt. Denn unklar ist auch, woher dieses eigentlich seine Masse bekommt.

Intuitiv würde man annehmen, dass die Masse der drei Quarks zusammengenommen die Masse des Protons ergibt. Aber die Quarks wiegen insgesamt gerade einmal 17 Mega-Elektronenvolt, eine vereinfacht ausgedrückte Einheit, mit der Physiker das Gewicht von Teilchen angeben. Ein Proton hingegen bringt 938 Mega-Elektronenvolt auf die Waage. „Das Proton ist also rund 55-mal schwerer als die Massen seiner drei Quarks zusammengenommen“, verdeutlicht Wiedner. „Die restliche Masse muss aus der starken Wechselwirkung kommen. In ihr steckt sehr viel Energie.“ Und Energie ist quasi Masse, wie Einstein mit seiner berühmten Gleichung E=mc² feststellte.

Ordnung ins System bringen

Um das Proton zu verstehen, müssen die Teilchenphysiker die starke Wechselwirkung genauer ergründen. Ein Schritt dorthin führt über die Vervollständigung des Teilchenzoos. Hunderte von Teilchen sind mittlerweile entdeckt, und ähnlich wie Naturwissenschaftler die chemischen Elemente im Periodensystem anordneten, sortieren die Teilchenphysiker die Bausteine der Materie, um basierend auf der Ordnung ein Verständnis des großen Ganzen zu erlangen.

Im Review of Particle Physics sind alle bislang entdeckten Teilchen wie im chemischen Periodensystem sortiert. Es gibt aber noch ein paar Lücken, an denen die Forscher arbeiten. © Roberto Schirdewahn

In einem an die 2.000 Seiten dicken Buch, dem „Review of Particle Physics“, sind alle bislang entdeckten Teilchen und ihre Eigenschaften aufgeführt und sortiert. „Das ist sozusagen unsere Bibel“, überspitzt Wiedner. Hier und da klaffen aber Lücken in den Tabellen. Der Forscher erklärt: „Manche Teilchen sind im Moment nur theoretisch vorhergesagt – danach suchen wir im Experiment, um unser Bild von den fundamentalen Bausteinen der Materie komplett zu machen.“

Experimente in China

Verschiedene Forschungsgruppen weltweit sind mit der Suche befasst. An Beschleunigern lassen sie Teilchen mit großen Energien aufeinanderprallen und beobachten, welche neuen Teilchen bei den Kollisionen entstehen. Ulrich Wiedners Team ist in das BES-III-Experiment am chinesischen „Beijing Electron Positron Collider“ involviert. Als Teil eines internationalen Konsortiums versuchen die Bochumer, bislang unbekannte Teilchen aufzuspüren, die neue Erkenntnisse über die starke Wechselwirkung zutage fördern könnten.

Merkwürdiger Materiezustand entdeckt

Rund fünfmal pro Jahr reist Ulrich Wiedner selbst nach China; immer wieder sind auch Studierende seines Lehrstuhls vor Ort, um ein paar Wochen an der Datenaufzeichnung mitzuwirken. Der Beschleuniger läuft 24 Stunden am Tag und bis auf die notwendigen Zeitfenster für die Wartung auch das ganze Jahr hindurch. Unaufhörlich prallen Elektronen mit hoher Bewegungsenergie auf ihre Antiteilchen, die Positronen. „Energie wird dabei in Masse umgewandelt, und wir schauen, in welche“, erklärt Wiedner.

Antiteilchen

Nach dem Standardmodell der Teilchenphysik gibt es zu jedem bekannten Elementarteilchen auch ein Antiteilchen. Ein Teilchen hat stets die gleiche Masse, die gleiche Lebensdauer und den gleichen Spin wie sein Antiteilchen. Auch einige andere Eigenschaften sind identisch. Ein paar Charakteristika sind allerdings genau entgegengesetzt, etwa das magnetische Moment oder die Ladung. Hat das Teilchen, zum Beispiel ein Elektron, negative Ladung, so hat das Antiteilchen, in diesem Fall das Positron, eine positive Ladung.

Im Lauf der Zeit – das BES-III-Experiment begann 2011 – ist das Forschungskonsortium auf einige merkwürdige Teilchen gestoßen; das erste davon tauchte 2013 auf. „Wir haben einen exotischen Zustand gefunden, den wir vorher noch nie in unseren Daten gesehen hatten“, erinnert sich Wiedner. Es handelte sich um ein Z+-Teilchen, von dem mittlerweile weitere Vertreter nachgewiesen wurden, auch in Experimenten an anderen Beschleunigern.

Zwei potenzielle Varianten für die Struktur

Welche Struktur das von ihnen entdeckte Z+-Teilchen hat, können die Forscher nur vermuten. „Wir wissen, aus welchen Quarks es aufgebaut ist, weil wir diese in weiteren Zerfällen nachweisen konnten“, erläutert Wiedner. Sechs Sorten von Quarks gibt es generell: Sie tragen die Namen Up, Down, Charm, Strange, Top und Bottom. Zusätzlich gibt es die sechs zugehörigen Antimaterie-Teilchen: das Anti-Up-Quark, das Anti-Down-Quark und so weiter.

Es existieren sechs Arten von Quarks sowie sechs zugehörige Antiteilchen, die Anti-Quarks. © Agentur der RUB

In dem merkwürdigen Zustand fanden die Physiker ein Charm- und ein Anti-Charm-Quark sowie ein Up- und ein Anti-Down-Quark. Daraus lassen sich zwei hypothetische Strukturen konstruieren: Bei dem Z+-Teilchen könnte es sich um einen Vier-Quark-Zustand handeln, in dem die Quarks über die starke Wechselwirkung zusammengehalten werden. Es könnte sich aber auch um ein Molekül handeln, in dem die vier Quarks in zwei Zweiergruppen vorliegen, die – ähnlich wie in einem chemischen Molekül – aneinandergebunden sind. In einer Gruppe wären das Charm- und das Anti-Charm-Quark enthalten, in der anderen Gruppe das Up- und das Anti-Down-Quark; dazwischen gäbe es eine noch unbekannte Art von Bindung.

Künftige Experimente sollen zeigen, welche von zwei theoretisch denkbaren Strukturen das Z+-Teilchen besitzt. Heute schon wissen Forscher, dass es vier Quarks beinhaltet – und auch welche Arten von Quarks. Prinzipiell existieren sechs verschiedene Arten von Quarks sowie sechs Anti-Quarks. © Agentur der RUB

„Die Molekülbindung von dieser Art von Teilchen, den Mesonen, wäre eine völlig neue Form der starken Wechselwirkung“, beschreibt Wiedner. „Wenn wir sie detailliert beschreiben könnten, würde uns das wieder einen Schritt beim Verständnis der starken Wechselwirkung weiterbringen – und damit auch bei der Frage, wie Quarks in Protonen zusammengehalten werden und wie Protonen ihre Masse erhalten.“

Zwischen Strukturvarianten unterscheiden

Ideen, wie man zwischen dem Molekül- und dem Vier-Quark-Zustand unterscheiden kann, haben die Forscherinnen und Forscher bereits. Sie wollen sie unter anderem an einem neuen Beschleuniger testen, der derzeit in Darmstadt entsteht: der „Facility for Antiproton and Ion Research“, kurz FAIR. Dort wird das „Panda“-Experiment laufen; der Name steht für „Anti-Proton Anihilation at Darmstadt“. Bis die Anlage läuft, dauert es aber noch fünf bis sechs Jahre. So lange suchen die Wissenschaftler am chinesischen Beschleuniger weiter nach unbekannten Teilchen und versuchen, die Eigenschaften der neu entdeckten Vertreter genauer zu bestimmen.

Neben den merkwürdigen Z+-Teilchen entdeckten sie inzwischen auch ähnliche, aber ungeladene Zustände, die X- und Y-Teilchen. Auch diese sind im Vergleich zu zuvor beschriebenen Materiebausteinen sonderbar, zum Beispiel weil sie eine besonders lange Lebensdauer besitzen.

Teilchen nur aus Gluonen

Die X-, Y- und Z+-Teilchen sind dabei nicht die einzigen ungewöhnlichen Materiezustände, denen Ulrich Wiedner auf der Spur ist. Mit dem neuen Experiment am FAIR-Beschleuniger möchte er auch die Struktur von derzeit nur theoretisch vorausgesagten Teilchen, den Gluebällen, ergründen. Sie bestehen ausschließlich aus Gluonen, den Trägern der starken Wechselwirkung.

„Die Struktur von Gluebällen zu verstehen wäre ein Traum“, sagt der Forscher. Anders als der Name suggeriert, glaubt er nicht, dass sie rund wie eine Kugel sind. In einer theoretischen Arbeit schlug Wiedner mit Kollegen vor, dass Gluebälle die Form eines in sich verdrehten oder verknoteten Donuts haben könnten.

Dass die Gluebälle existieren, da ist sich der Physiker einigermaßen sicher. „Wir haben mit dem Experiment in China ein Teilchen gefunden, das Eta-1405, das ein heißer Kandidat für einen Glueball ist“, erzählt er. Bewiesen ist das zwar noch nicht. „Aber wir arbeiten daran“, so Wiedner.

Verbindung zur Stringtheorie

Besonders hoch ist die Motivation dafür, weil ein Nachweis der Gluebälle nicht nur für das Verständnis der starken Wechselwirkung interessant wäre. Es gibt auch eine Verbindung zur Stringtheorie – also zu der Theorie, die die bislang nicht zu vereinende Gravitationslehre mit dem Standardmodell der Teilchenphysik in Einklang bringen könnte. „Die Stringtheorie macht bestimmte Vorhersagen für Gluebälle“, erklärt Wiedner. „Wenn wir Gluebälle fänden und diese Vorhersagen testen könnten, wäre es das erste Mal, dass wir Teile der Stringtheorie experimentell überprüfen könnten.“

Als Teilchenphysiker braucht man Geduld.


Ulrich Wiedner

Bis es so weit ist, wird womöglich noch etwas Zeit ins Land ziehen. Aber Ulrich Wiedner ist zuversichtlich: „Wenn man weiß, wonach man suchen muss, kann es manchmal ganz schnell gehen“, sagt er. Das heißt: Wenn ein Glueball nachgewiesen ist, könnte in kurzer Zeit ein ganzes Spektrum von Gluebällen in den Daten auffindbar sein. Dabei können auch neue Experimente am FAIR-Beschleuniger helfen, an denen die Bochumer Forscher beteiligt sein werden. Derzeit sind sie aber erst einmal damit beschäftigt, Teile für den FAIR-Detektor zu bauen. „Als Teilchenphysiker braucht man eben Geduld“, weiß Wiedner.

So funktioniert ein Teilchendetektor

Teilchenbeschleuniger enthalten mehrere Detektoren, die verschiedene Arten von Teilchen nachweisen können oder mit denen sich bestimmte physikalische Eigenschaften messen lassen. Der BES-III-Detektor kann sowohl elektrisch neutrale als auch geladene Teilchen erfassen.

Eine sogenannte Driftkammer detektiert geladene Teilchen. Sie ist mit einem speziellen Gas gefüllt und in einen supraleitenden Magneten eingebettet. Wenn geladene Teilchen durch die Kammer fliegen, ionisieren sie das Gas und verlieren dabei Energie. Dieser Energieverlust ist messbar und hängt von der ursprünglichen Geschwindigkeit des Teilchens ab, auf die so zurückgerechnet werden kann. Durch das äußere Magnetfeld wird außerdem die Flugbahn des geladenen Teilchens gekrümmt, was den Forschern erlaubt, auf dessen Impuls zurückzuschließen. Anhand von Teilchengeschwindigkeit und -impuls können sie die Masse berechnen, die Aufschluss über die Art des Teilchens geben kann. Um ein Teilchen zu identifizieren, ziehen sie auch Daten weiterer Detektoren heran, die zum Beispiel die Flugzeit geladener Teilchen erfassen.

Ungeladene Teilchen wie Photonen werden mit einem Kalorimeter detektiert. Es stoppt die Teilchen und misst die dabei frei werdende Energie. Hochenergetische Teilchen zerfallen in diesem Prozess immer wieder in weitere Teilchen, bis die Energie erschöpft ist. Auch diese Zerfälle werden von dem Kalorimeter erfasst und helfen, das Teilchen zu identifizieren.

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Veröffentlicht

Mittwoch
14. Februar 2018
10:47 Uhr

Von

Julia Weiler

Dieser Artikel ist am 27. April 2018 in Rubin 1/2018 erschienen. Die gesamte Ausgabe können Sie hier als PDF kostenlos downloaden. Weitere Rubin-Artikel sind hier zu finden.

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