Sen Cheng leitet die Arbeitsgruppe für Computational Neuroscience. © RUB, Marquard

Gedächtnis Zwei rivalisierende Theorien in einem Modell vereint

Computermodelle helfen, das Gedächtnis zu verstehen.

Schon lange diskutieren Hirnforscher darüber, ob ein bestimmter Teil des menschlichen Gedächtnisses aus zwei getrennten Systemen besteht oder nicht. Ein neues Computermodell von Bochumer Neuroinformatikern zeigt auf, wie die gegensätzlichen Theorien zusammengeführt werden könnten. Das Team um Prof. Dr. Sen Cheng und Dr. Jing Fang stellt die Ergebnisse im Fachmagazin „Neural Computation“ vor.

Neurowissenschaftler unterscheiden zwischen dem episodischen Gedächtnis, also dem Gedächtnis für Erlebnisse, und dem semantischen Gedächtnis, das Fakten speichert. Wenn wir uns zum Beispiel erinnern, wie wir heute Morgen zuhause die erste Tasse Kaffee getrunken haben, nutzen wir unser episodisches Gedächtnis. Dass wir überhaupt wissen, was eine Tasse ist, haben wir dem semantischen Gedächtnis zu verdanken.

Gute Argumente auf beiden Seiten

Ob für die beiden Formen des Erinnerns unterschiedliche Systeme im Gehirn verantwortlich sind oder nicht, ist umstritten. Für beide Theorien gibt es experimentelle Belege.

Die Bochumer Forschergruppe schlägt daher ein Modell vor, in dem es zwar zwei unterschiedliche Gedächtnissysteme gibt, die jedoch eng verbunden agieren. Diese These übersetzten sie in ein Computermodell.

Das semantische Gedächtnis ist darin zuerst aktiv und verarbeitet die rohen Informationen, also die Sinneseindrücke, die wir sammeln. Erst im zweiten Schritt schaltet sich das episodische Gedächtnis ein und erschafft aus den verarbeiteten Informationen des semantischen Gedächtnisses eine abstrakte Erinnerung. Diese speichert es in einer Sequenz von Erinnerungsschnipseln ab, die Sen Cheng als Schnappschüsse bezeichnet.

Schnappschüsse im Gehirn

Frühere Überlegungen gingen davon aus, dass das Gehirn eine episodische Erinnerung in einem einzelnen Schnappschuss – ähnlich dem Polaroid-Foto eines Erlebnisses speichert. Die RUB-Forscher sind aber der Ansicht, dass es vielmehr eine Reihe dieser Schnappschüsse gibt, die hintereinander gespeichert und miteinander verkettet werden.

Um zu beweisen, dass das semantische und das episodische Gedächtnis tatsächlich auf diese Art interagieren, testeten die Wissenschaftler die Vorhersagen ihres Computermodells mit Probanden.

Vorhersagen bestätigen sich

Die Versuchsteilnehmer sollten sich merken, wie und wohin sich acht abstrakte Objekte auf einem Computerbildschirm bewegten – ein Test für ihr episodisches Gedächtnis. Vier der acht Objekte durften die Teilnehmer zuvor schon einmal sehen und sie – so die Theorie – dabei in ihrem semantischen Gedächtnis abspeichern.

Die Probanden konnten sich besser einprägen, wie und wohin sich die Objekte bewegten, wenn sie sie vorher schon einmal gesehen hatten; sie waren also in ihrem semantischen Gedächtnis bereits vorhanden. Das entsprach den Vorhersagen des Computermodells und ist ein Hinweis darauf, dass semantisches und episodisches Gedächtnis tatsächlich miteinander verknüpft sind.

Weitere Forschung soll nun zeigen, ob und wie sich die Systeme in beide Richtungen beeinflussen. „Als Nächstes untersuchen wir, wie sich das episodische Gedächtnis auf das semantische Erinnern auswirkt“, so Sen Cheng.

Förderung

Die Studie entstand im Rahmen des Sonderforschungsbereiches 874, der seit 2010 an der Ruhr-Universität Bochum gefördert wird. Der interdisziplinäre Forscherverbund wird von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) unterstützt und arbeitet an der Frage, wie Sinneseindrücke im Gehirn zu komplexem Verhalten und Gedächtnis verarbeitet werden

Originalveröffentlichung

Jing Fang, Naima Rüther, Christian Bellebaum, Laurenz Wiskott, Sen Cheng: The Interaction between Semantic Representation And Episodic Memory, in: Neural Computation, 2017, DOI: 10.1162/Neco_A_01044

Veröffentlicht

Mittwoch
21. Februar 2018
14:12 Uhr

Von

Judith Merkelt-Jedamzik

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