Erziehungswissenschaft „Viele entscheiden aus dem Bauch heraus“
Durch Traumata bedingte Leistungseinschränkungen bei geflüchteten Kindern werden nicht standardmäßig erfasst. Dabei ist das Potenzial vorhanden.
Wenn Kinder nach der Flucht aus ihrem Heimatland in Deutschland ankommen, sind sie in Nordrhein-Westfalen – nach der kommunalen Zuweisung – schulpflichtig. Aber auf welche Schule sollen sie gehen? Welche Leistungen können sie erbringen, auf welchem Lernstand sind sie?
Um das zu ermitteln und (gesundheitliche) Einschränkungen zu erfassen, gibt es zwei Anlaufstellen, die jedes geflüchtete Kind aufsuchen muss: die kommunalen Integrationszentren und die Gesundheitsämter, wo eine Schuleingangsuntersuchung stattfindet.
Prof. Dr. Karim Fereidooni, Juniorprofessor für Didaktik der sozialwissenschaftlichen Bildung an der Fakultät für Sozialwissenschaft der RUB, und die Medizinerin Dr. Pia Jäger haben die dortige Testung untersucht.
Herr Professor Fereidooni, worum ging es in dieser Untersuchung?
Karim Fereidooni: Wir wollten wissen, wie in der Erstberatung der kommunalen Integrationszentren und bei der Schuleingangsuntersuchung die schulische Leistung der Kinder beurteilt wird und wie untersucht wird, ob die Kinder psychosoziale Auffälligkeiten haben, weil sie zum Beispiel traumatisiert sind. Dazu haben wir auf freiwilliger Basis qualitative Interviews mit Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern von kommunalen Integrationszentren an sechs verschiedenen Standorten durchgeführt. Dort arbeiten Lehrerinnen und Lehrer, die für diese Aufgabe abgeordnet worden sind.
Wie sahen die Ergebnisse aus?
Fereidooni: Von den Ergebnissen waren wir sehr überrascht. Es stellte sich nämlich heraus, dass gar keine standardisierte Testung stattfindet. Es wird gefragt: Wann wurde das Kind eingeschult? Wie viele Jahre ist es zur Schule gegangen? In welchem Land, und welche Sprachen spricht es? Keiner der Interviewten hat ein Diagnoseinstrument an die Hand bekommen. Manche haben eigene Fragebögen entwickelt, viele entscheiden aus dem Bauch heraus.
Die Mitarbeiter der Integrationszentren können ihrer Aufgabe nicht gerecht werden, weil ihnen das Handwerkszeug fehlt.
Karim Fereidooni
Entsprechend unzufrieden sind die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Integrationszentren. Sie können ihrer Aufgabe nicht gerecht werden, weil ihnen das Handwerkszeug fehlt. Dabei sind die Leute sehr engagiert.
Pia Jäger: Wir haben in den Interviews auch gefragt, was die Befragten tun, wenn sie ein Kind sehen, das durch sehr starke Leistung auffällt. Und für solche Kinder – die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Integrationszentren schätzen den Anteil auf etwa drei Prozent – setzen sie sich teils gezielt ein, um sie beispielsweise aufs Gymnasium zu bringen. Das fußt aber auf persönlichem Engagement, nicht auf einer adäquaten Testung der Leistung.
Wie wirkt sich diese Situation auf die Kinder aus?
Fereidooni: Was die Leistungstestung anbelangt, wird oft ohnehin nicht entsprechend entschieden, auf welche Schule ein Kind geht. Diese Entscheidung trifft letztlich das Schulamt unabhängig vom Ergebnis der Beratung beim kommunalen Integrationszentrum. Oft wird dort einfach nach Alter entschieden: Alle 12-Jährigen gehen aufs Gymnasium, alle 13-Jährigen auf die Hauptschule.
Warum denn das?
Fereidooni: Gerade die prestigeträchtigen Schulen, also die Gymnasien, wollen keine geflüchteten Kinder aufnehmen, aus der Befürchtung heraus, dass das Niveau sinken würde. Gegen Einzelfallentscheidungen legen die Schulen dann Protest ein, dem es schwierig ist standzuhalten. Wenn das Schulamt einfach argumentiert, alle 12-Jährigen Geflüchteten gehen aufs Gymnasium, ist es nicht so angreifbar.
Jäger: Genauso schlimm ist aber, dass psychische beziehungsweise psychososoziale Auffälligkeiten oder Erkrankungen oder auch Einschränkungen der Leistungsfähigkeit in der Erstberatung oder beim Gesundheitsamt nicht erfasst werden. Die Schätzungen über die Häufigkeit variieren stark. Wissenschaftliche Untersuchungen berichten, dass zwischen 20 und 80 Prozent der geflüchteten Kinder von psychischen Störungen – vor allem Traumafolgestörungen – betroffen sind. Diese können hier nur anhand von mitgebrachten Unterlagen diagnostiziert werden. Aber wenn Familien auf der Flucht sind, bringen sie solche Unterlagen meist nicht mit, und wenn eine Traumafolgestörung beispielsweise erst auf Basis von Erlebnissen während der Flucht zurückgeht, gibt es gar keine.
Fereidooni: Diese traumatisierten Kinder werden ganz normal mit allen anderen zur Schule geschickt, wo sie auffällig werden, sozial oder auch durch mangelhafte Leistungen. Oft werden die betroffenen Kinder dann einfach auf eine andere, weniger anspruchsvolle Schulform geschickt. Das Problem verschiebt sich somit nur, und eine Behandlung verzögert sich.
Die Kinder können in eine falsche Entwicklungsschiene geraten.
Pia Jäger
Jäger: Dabei wäre es sehr einfach, die Kinder einem Screening zu unterziehen. Dafür gibt es Instrumente, die jede Mitarbeiterin und jeder Mitarbeiter einfach anwenden könnte, und die sehr sensitiv sind. Nur verfügen die Integrationszentren nicht darüber. Das Resultat ist, dass die Kinder in eine falsche Entwicklungsschiene geraten können. Ihre Leistung verschlechtert sich, ihr Bildungsgang ebenso, und die Krankheit kann sich verschlimmern.
Was müsste denn idealerweise passieren, wenn bei einem Kind eine eingeschränkte Leistungsfähigkeit oder psychische Erkrankung erkannt werden würde?
Jäger: Es müsste eine begleitende Therapie stattfinden, eine psychosoziale Unterstützung auch in der Schule. Da das Problem an die Lehrer weitergeschoben wird, können im Moment nur sie die Weichen richtig stellen. Dafür wollen wir sie mit unseren Ergebnissen erreichen und sensibilisieren.
Was kann eine Lehrerin oder ein Lehrer tun, wenn ihr oder ihm der Verdacht kommt, ein Kind könnte traumatisiert sein?
Jäger: An den meisten Schulen gibt es Schulsozialarbeiter, die man einschalten kann, dann greifen verschiedene Konzepte. Das Problem unerkannter psychosozialer Erkrankungen und Traumafolgestörungen ist übrigens kein isoliertes Problem von Geflüchteten; auch deutsche Kinder können betroffen sein. Bei geflüchteten Kindern liegt der Anteil allerdings höher.
Bei geflüchteten Kindern könnten die Erfassung und Einleitung entsprechender Unterstützung oder Behandlung im Rahmen dieser Erstkontakte erfolgen, weil alle in die Beratung der Kommunalen Integrationszentren müssen. Es ist wichtig, dass die Potenziale, die diese Institutionen haben, ausgeschöpft werden. Die Zusammenarbeit in multiprofessionelle Teams wäre zum Beispiel ein guter Weg, die Situation zu verbessern.