Interview „Die Volkswirtschaftslehre ignoriert die ökologischen Krisen“
Ökonom Michael Roos attestiert seinem Fach mangelndes Krisenbewusstsein. Seiner Meinung nach erschwert die Volkswirtschaftslehre sogar Maßnahmen zur effektiven Bekämpfung der ökologischen Krise.
Klimaerwärmung, Artensterben, knapper werdende Ressourcen – Naturwissenschaftlerinnen und -wissenschaftler warnen mit hoher Dringlichkeit vor dem irreversiblen Kollaps von Ökosystemen. Der Großteil der Wirtschaftswissenschaftler hingegen bleibt gelassen. Doch das sollten sie nicht, meint Prof. Dr. Michael Roos, Leiter des Bochumer Lehrstuhls für Makroökonomik. Er appelliert an die Kolleginnen und Kollegen seines Fachs, Erkenntnisse aus anderen Disziplinen in die eigene Arbeit einzubeziehen und die Verantwortung der Volkswirtschaftslehre bei der Bekämpfung ökologischer Probleme anzunehmen.
Herr Professor Roos, Sie werfen der Volkswirtschaftslehre mangelndes ökologisches Bewusstsein vor. Was ist Ihrer Ansicht nach das Problem?
Die Volkswirtschaftslehre ignoriert die vielfältigen ökologischen Krisen. Während der Klimawandel mittlerweile auch in der Mainstream-Ökonomik als Problem gesehen wird, spielen andere ökologische Probleme wie das Artensterben oder die Abholzung der Wälder kaum eine Rolle. Im Gegensatz zu Naturwissenschaftlern haben Ökonomen wenig Krisenbewusstsein. Sie sehen in den meisten Fällen keinen dringenden Handlungsbedarf, um ökologische Katastrophen abzuwenden. Natürlich kann niemand vorhersagen, ob es in der nahen Zukunft einen Kollaps lebenswichtiger Ökosysteme geben wird. Naturwissenschaftler haben tendenziell eine pessimistische Sicht auf diese Frage, Ökonomen und Ingenieure eine optimistische.
Was sagen die Optimisten?
Zum Beispiel, dass pessimistische Prognosen in der Vergangenheit nicht eingetreten sind und dass Menschen ihr Verhalten an Krisen anpassen, wodurch diese sich ins Positive wenden. Die Optimisten setzen auf den menschlichen Erfindungsgeist und die menschliche Vernunft: Neue Technologie hat in der Vergangenheit viele Probleme gelöst und wird es auch in Zukunft tun.
Was spricht gegen diese Sicht?
Dass ein Kollaps bisher nicht eingetreten ist, beweist nicht, dass er in Zukunft nicht eintreten kann. Es gibt auch viele Argumente gegen den Technikoptimismus. Der Geograf und Biologe Jared Diamond verweist etwa auf die Tatsache, dass der schnelle technische Fortschritt des 20. Jahrhunderts neue Probleme mit sich gebracht hat und dass es unwahrscheinlich ist, dass die Technik der Zukunft nur noch Lösungen, aber keine neuen Probleme mehr erzeugen wird.
Ökonomische Aktivitäten sind die Ursache der ökologischen Krise.
Sie plädieren dafür, dass Ökonominnen und Ökonomen nicht auf technische Lösungen warten, sondern sich verstärkt mit der ökologischen Krise befassen sollten.
Ja, denn die ökologische Krise ist in ein ökonomisches Thema. Sie betrifft die Wohlfahrt der Menschen, weil sie Leben, Gesundheit und die Versorgung mit Gütern bedroht. Und die Volkswirtschaftslehre versteht sich als Wissenschaft, die sich mit der Wohlfahrt der Menschen befasst und die Wirtschaftspolitik regelmäßig danach beurteilt, welche Wohlfahrtswirkungen sie hat. Zum anderen, und das ist noch wichtiger, sind ökonomische Aktivitäten die Ursache der ökologischen Krise.
Können Sie das genauer erklären?
Die menschliche Zerstörung und Beeinträchtigung der Umwelt hat immer einen ökonomischen Kern. Alle zentralen Themen der Volkswirtschaftslehre haben ökologische Implikationen: Produktion, Konsum, Güterhandel. Ökonomische Lehrbücher bilden das aber nicht ab. Die üblichen Produktionsfaktoren sind Arbeit, physisches Kapital, Technologie und in manchen Fällen Humankapital. Aber natürliches Kapital – Pflanzen und Tiere in Wäldern oder Ozeanen – sowie Rohstoffe und Energie werden selten behandelt. Beim Thema Konsum konzentrieren sich Lehrbücher meist auf produzierte, marktgehandelte Güter und vernachlässigen Naturgüter. Auch der Handel ist mit ökologischen Effekten verbunden, die meist ausgeblendet werden.
So kann die Volkswirtschaftslehre keinen Beitrag zur Bekämpfung der Krise leisten. Man kann sogar noch einen Schritt weitergehen und sagen, dass die ökonomischen Argumente Fortschritte bei der Bewältigung der ökologischen Krise aktiv behindern.
Welche Argumente sind das?
Neben dem zuvor schon erwähnten Technikoptimismus zum Beispiel der sogenannte Whataboutism. Dann wird argumentiert, dass Deutschland und die EU nur einen kleinen Beitrag zur Reduzierung der Treibhausgasemissionen leisten können im Vergleich zu anderen Nationen. Ein anderes Argument ist die Trittbrettfahrer-Ausrede, nach der andere keine Absicht haben, selbst ihre Emissionen zu verringern und von den eigenen Anstrengungen profitieren würden. So gibt es noch weitere Argumente, die oft miteinander kombiniert werden und sehr überzeugend sein können, insbesondere weil sie richtige Elemente enthalten und durchaus in guter Absicht vorgebracht werden. Trotzdem tragen sie dazu bei, effektiven und vor allem schnellen Klimaschutz zu verhindern.
In Deutschland wird die Politik in wirtschaftspolitischen Fragen vom Sachverständigenrat vertreten, dem die fünf Wirtschaftsweisen angehören. Welche Position vertritt dieses Gremium in Bezug auf die ökologische Krise?
Ich habe alle Jahresgutachten des Sachverständigenrats von 2009 bis 2019 analysiert und kein Bewusstsein für die ökologische Krise oder für die Dringlichkeit effektiver Klimapolitik gefunden – und das obwohl 2009 der UN-Klimagipfel in Kopenhagen sehr im öffentlichen Interesse stand. Außerdem ist im gleichen Jahr ein wegweisender wissenschaftlicher Aufsatz von Johan Rockström und Kollegen zu den planetaren Grenzen veröffentlicht worden.
Der Sachverständigenrat macht kaum konstruktive Vorschläge zum Umgang mit der ökologischen Krise.
Die Bekämpfung der ökologischen Krise wird an keiner Stelle in den Berichten als zentrale Zukunftsaufgabe angesehen. Mit Blick auf den Klimaschutz ist für den Sachverständigenrat die vordringliche Aufgabe, die Effizienz der Klimapolitik zu erhöhen. Andere ökologische Themen als den Klimawandel behandelt er gar nicht. Er macht auch kaum konstruktive Vorschläge zum Umgang mit der ökologischen Krise.
Die Klimapolitik scheint eine Rolle in den Berichten zu spielen. Welchen Vorschlag äußert der Sachverständigenrat zu diesem Thema?
In seinen Jahresgutachten seit 2009 hat der Sachverständigenrat die Rolle eines Kritikers der deutschen Klimapolitik eingenommen. Dabei orientiert er sich sehr an theoretischen Idealvorstellungen, wie eine gute Politik auszusehen hat. Effizienz ist das übergeordnete Kriterium. Er fordert die Regierung auf, sich für eine international einheitliche CO2-Bepreisung einzusetzen, überlässt es aber weitgehend der Regierung herauszufinden, wie dieses Ziel erreicht werden könnte.
2019 hat der Sachverständigenrat dann ein Sondergutachten zur Klimapolitik herausgegeben.
Darin legt er in der Tat eine differenziertere Sicht auf den Klimawandel dar als in den meisten Jahresgutachten und setzt sich konstruktiver mit den Handlungsoptionen der Bundesregierung auseinander, was aber auch der von der Regierung erteilte Auftrag für das Gutachten war. Allerdings entsteht auch in dem Sondergutachten nicht der Eindruck, dass sich die Welt oder gar Deutschland in einer ernstzunehmenden Klimakrise befindet, die entschlossene und schnelle Gegenmaßnahmen erforderlich machen würde.
Der Sachverständigenrat verweist immer wieder darauf, dass für eine Eindämmung der Erderwärmung ein globales Vorgehen unabdingbar ist, und befürchtet, dass eine nationale Vorreiterrolle Deutschlands beim Klimaschutz den Anreiz anderer Länder für eigene Maßnahmen vermindern könnte.
Wie sollte sich der Sachverständigenrat Ihrer Meinung nach verhalten?
Das Mindeste, was man erwarten kann, ist eine ausgewogene Auseinandersetzung mit dem Thema und die ernsthafte Berücksichtigung der Evidenz und der Argumente der Naturwissenschaftler. Das fängt damit an, dass die Literatur rezipiert werden sollte, was der Sachverständigenrat im vergangenen Jahrzehnt nur sehr verhalten getan hat.
Es reicht aber nicht, den Standpunkt der Naturwissenschaftler nur zur Kenntnis zu nehmen. Wenn Ökonomen glauben, dass man die Gefahren der ökologischen Krise vernachlässigen kann, müssen sie begründen, wie sie zu dieser Einschätzung kommen. Der bloße Optimismus, dass der technische Fortschritt helfen wird, Katastrophen zu vermeiden, reicht dabei nicht. Es geht darum, dass die menschliche Lebensgrundlage bedroht werden kann. Die Beweislast liegt bei den Optimisten; sie müssen begründen, warum sie schnelle, weitreichende und auch teure Maßnahmen für nicht erforderlich halten.
Leider ist vielen Ökonomen das Denken in nichtlinearen, komplexen Systemen fremd.
Warum fällt es vielen Ökonomen so schwer, die ökologische Krise in ihre Arbeit einzubeziehen?
Die Beschäftigung mit der naturwissenschaftlichen Literatur zeigt, dass natürliche Systeme komplexe, nichtlineare Systeme sind. In ihnen können Selbstverstärkungs- oder Feedbackeffekte sowie plötzliche, irreversible Zustandsänderungen auftreten; das heißt, es kann zu Systemzusammenbrüchen kommen, die nicht rückgängig gemacht werden können. Leider ist vielen Ökonomen das Denken in nichtlinearen, komplexen Systemen fremd.
Was wünschen Sie sich von Ihrer Disziplin, der Volkwirtschaftslehre, für die Zukunft?
Dass sie akzeptiert, dass sie einen wichtigen Beitrag leisten kann und sollte, um die ökologische Krise zu bekämpfen. Dazu müsste sie anerkennen, dass ökonomische Aktivitäten eine zentrale Ursache der ökologischen Krise sind. Außerdem müsste sie sich die Frage stellen, ob und wie es möglich ist, die aktuelle Wirtschaftsordnung so zu verändern, dass die Ursache des Problems bekämpft wird. Letztlich läuft es auf die Frage hinaus, ob und wie stetiges Wirtschaftswachstums mit den planetaren Grenzen vereinbart werden kann. Diese Frage muss die Volkswirtschaftslehre als Ganzes stellen und beantworten.