Im Gespräch Wohlstand messbar machen
Wie man Lebensqualität in Zahlen fassen kann, was das Entscheidende beim Umgang mit diesen Zahlen ist, und was Deutschland bislang versäumt hat. Ein Interview mit dem Wirtschaftsexperten Christoph M. Schmidt.
Die Vereinten Nationen streben das große Ziel an, allen Menschen in der Welt ein Leben in Wohlstand zu ermöglichen. Was Wohlstand eigentlich bedeutet, wie weit wir schon gekommen sind, und welche Hürden es auf dem Weg zur Vision gibt, sind Fragen, mit denen sich Wirtschaftswissenschaftler Prof. Dr. Dr. h. c. Christoph M. Schmidt in seiner Forschung und seiner Arbeit in der Politikberatung befasst hat.
Die Coronakrise hat die Ungleichheiten in der Welt stärker zutage treten lassen. Welche Lehren können wir aus der Pandemie ziehen – im Hinblick auf Nachhaltigkeit?
Wer die Hoffnung hatte, dass die Krise hilft, die Klima- und Umweltprobleme zu lösen, den muss ich enttäuschen. Manche Belastungen haben sich zwar zeitweilig reduziert, das ging jedoch mit einem scharfen Rückgang der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit einher.
Dabei sollte es aber besser nicht bleiben: Die Coronakrise hat gezeigt, dass die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der Schlüssel zum Erhalt von Lebensqualität ist – nicht nur von materiellem Lebensstandard, sondern insbesondere auch zum Erhalt von sozialer Sicherung und Teilhabe. Zwar merkt man die nachteiligen Wirkungen einer derart lange gedämpften wirtschaftlichen Aktivität auf Aspekte sozialer Ungleichheit in Deutschland weniger stark als in anderen Ländern. Aber auch bei uns haben beispielsweise Kinder und Jugendliche in bildungsferneren Umgebungen deutlich mehr unter der Situation gelitten. Diese sozialen Auswirkungen der Coronakrise werden uns noch lange beschäftigen. Insgesamt waren wir auf die Pandemie offenbar nicht so gut vorbereitet. Eine Lehre sollte daher sein, uns für zukünftige Krisen noch weit besser zu wappnen, um dann, wenn sie eintreten sollten, widerstandsfähiger dagegen zu sein.
Zur Person
Außerdem hat die Coronapandemie offenbart, wie eng die Welt zusammenhängt. Die Geschwindigkeit, mit der Personen, Informationen, Güter und damit auch Probleme aus anderen Regionen zu uns gelangen, macht es mehr denn je – nicht nur aufgrund von ethischen Standards – notwendig, dass man aufeinander achtet. Globale Teilhabe zu ermöglichen, vor allem auch dem globalen Süden Teilhabe am Wohlstand zu ermöglichen, halte ich daher für eine der dringlichsten Aufgaben dieses Jahrhunderts.
Genau das wollen die Vereinten Nationen mit den 17 Zielen für nachhaltige Entwicklung bis 2030 erreichen. Wo steht die Weltgemeinschaft aktuell?
Seit 1990 ist die Wirtschaftsleistung pro Kopf in der Welt enorm gewachsen, die Armut weltweit ist zurückgegangen. Gleichzeitig ist die Bevölkerungszahl enorm gestiegen – in einem Maß, von dem man gar nicht dachte, dass die Erde das tragen kann. Doch schritthaltend damit hat leider auch der Raubbau an der Natur zugenommen. Die große Herausforderung für die kommenden Jahrzehnte wird sein, die Umweltbelastung zu vermindern oder besser noch umzukehren, die Menschen aber gleichzeitig nicht wieder zurück in die Armut zu treiben. Diesen Anspruch greifen diese 17 Ziele auf, die sogenannten Sustainable Development Goals.
Ziele für nachhaltige Entwicklung
Haben wir es überhaupt in der Hand, die Ziele bis 2030 zu erreichen?
Ja, wir haben es sicherlich in der Hand, eine Reihe dieser Ziele zu verwirklichen. Es hängt aber sehr davon ab, wie wir jetzt die Weichen stellen. In Europa wird momentan ernsthaft am Klimaproblem gearbeitet. Man darf zwar nicht zu blauäugig sein, aber zusammen mit der neuen Administration in den USA, die ihre Verantwortung in der Welt wieder ernster nimmt, und China, das vermehrt Interesse an einer gemeinschaftlich-koordinierten Lösung zeigt, könnte die Welt innerhalb weniger Jahre durchaus riesige Fortschritte machen.
Auch wenn man die Ziele nicht in allen Dimensionen erreicht, kann trotzdem schon viel gewonnen sein.
Aber die Herausforderungen sind auch gewaltig. Die Ungleichheit in der Welt ist zwar insgesamt zurückgegangen, in vielen reicheren Volkswirtschaften wie den USA und Großbritannien ist sie jedoch gestiegen. Und auch wenn die ärmeren Länder aufgeholt haben, gibt es in Afrika immer noch bitterarme Länder wie beispielsweise Burkina Faso. Dort ist es noch ein weiter Weg, bis unsere Vorstellung von einem guten Leben verwirklicht ist. Ob das bis 2030 gelingen kann, ist fraglich.
Ziele sind allerdings dazu da, um Dinge anzustreben, und je näher man ihnen kommt, umso besser. Auch wenn man sie dann nicht in allen Dimensionen erreicht, kann trotzdem schon viel gewonnen sein.
Um zu beurteilen, ob die Ziele erreicht wurden, muss man sie auch bewerten können. Wie misst man eigentlich Wohlstand?
Meiner Ansicht nach kann man Wohlstand nicht mit einer einzigen Maßzahl abbilden. Vielmehr wird eine Vielzahl an Indikatoren benötigt. Dieses sogenannte quantitative Monitoring hilft dabei, unterschiedliche Dimensionen des Wohlstands in ihrer Vielfalt zu erfassen. Keine dieser Zahlen ist aber ein Wert in sich, es sind Annäherungen daran, was man Glück für alle nennen könnte.
Solch eine Annäherung zu ermitteln ist natürlich kompliziert, weil schlichtweg niemand auf der Stirn stehen hat, was sein oder ihr heutiger Glücksindex ist. Güter und Dienste, die am Markt gehandelt werden, sind vergleichsweise leicht zu messen, aber das menschliche Glück ist äußerst vielschichtig und hängt an weit mehr als an materiellem Wohlstand. Als Ökonominnen und Ökonomen denken wir über die vielen Entscheidungen nach, die Menschen treffen – etwa welche Bildungsinhalte sie verfolgen oder welchen Urlaub sie planen – und überlegen, wie man diese Wahlhandlungen nutzen kann, um zu verstehen, welche Dinge mehr und welche weniger von ihnen wertgeschätzt werden.
Es gibt immer wieder den Vorwurf an die Ökonomik, wir würden das Bruttoinlandsprodukt mit Wohlstand oder Glück gleichsetzen. Das finde ich bizarr.
Früher wurde häufig schlicht das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf als Maß für Wohlstand herangezogen.
In der Tat gibt es immer wieder den Vorwurf an die Ökonomik, wir würden das Bruttoinlandsprodukt mit Wohlstand oder Glück gleichsetzen. Das finde ich bizarr. Ich kenne keine Ökonomin und keinen Ökonomen, der diese plumpe Position vertreten würde. Aber andererseits ist unbestritten, dass das Bruttoinlandsprodukt einen großen Stellenwert in der politischen Diskussion hat. Die Frage ist: Liegt das daran, dass dieser Indikator vielfach kommuniziert wird und leicht zu messen ist? Oder ist es einfach nur ein guter Indikator, der viel von dem abgreift, was Menschen glücklich macht? Darüber zu diskutieren, wie man Wohlstand und Fortschritt in einem Berichtswesen abbilden kann und wie wirtschaftliche Leistungsfähigkeit und materielle Prosperität mit hineinspielen, fand ich faszinierend.
Sie haben sich in verschiedenen Gremien engagiert, die diese Diskussion geführt haben. Was ist letztendlich dabei herausgekommen?
Ein erstes wichtiges Ergebnis ist: Wenn man den Dreiklang von ökonomischer, sozialer und ökologischer Nachhaltigkeit verfolgen will, kann das nicht mit einem einzelnen Indikator gelingen. Einen ganzheitlichen Erkenntnisanspruch kann nur ein Indikatorenbündel erfüllen, wie wir es etwa in der Enquete-Kommission für Wachstum, Wohlstand und Lebensqualität entwickelt haben. Doch das Zusammentragen der statistischen Kennzahlen ist letztlich nur eine Fleißarbeit für die statistischen Ämter. Entscheidend ist daher zweitens, was man mit ihnen macht: Sie müssen interpretiert werden – am besten im Widerspiel zwischen Expertengremien und Politik.
Ist das in der Praxis passiert?
Bislang sind diese Einsichten nicht so recht aufgegriffen worden. Daher ist die ganzheitliche Wohlfahrtsberichterstattung in Deutschland ihrem Anspruch bisher nicht gerecht geworden.
Ein Gegenbeispiel: Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung erstellt jedes Jahr ein viel beachtetes Gutachten. Die Bundesregierung ist wiederum gesetzlich dazu verpflichtet, dazu Stellung zu beziehen, sie kann der Diskussion nicht ausweichen. Wäre das auch bei der ganzheitlichen Wohlfahrtsberichterstattung so, hätten wir im Bundestag und in der Öffentlichkeit eine Diskussion darüber auf der Basis solider wissenschaftlicher Arbeit und Expertise. Solange das nicht geschieht, wird die Berichterstattung nicht viel bewirken können.
Das klingt, als sei die Arbeit in der Politikberatung manchmal auch ernüchternd, weil die erarbeiteten Konzepte nicht in der Praxis angewendet werden. Was ist Ihre persönliche Motivation, sich dennoch dafür zu engagieren?
Neben meiner Herzensangelegenheit, das RWI – Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung seit nun fast 20 Jahren anzuführen, hat mir die Arbeit im Sachverständigenrat sehr viel gegeben. Es war eine tolle Erfahrung, mit immer neuen Problemen und riesigen Herausforderungen – wie etwa der Finanzkrise – konfrontiert zu sein, und das mit einem Gremium von fachlich sehr guten Kolleginnen und Kollegen zu diskutieren. Aber im Laufe der Jahre hat sich mein eigener Schwerpunkt in Richtung einer interdisziplinären Zusammenarbeit verschoben, zum Beispiel im Rahmen der acatech – Deutsche Akademie der Technikwissenschaften oder der Leopoldina. Es ist unheimlich bereichernd, dort Kolleginnen und Kollegen zu treffen, die in ihren Bereichen fantastisch sind und von denen man so viel lernen kann. Das spornt an, auch selbst immer noch mal einen extra Meter zu gehen.
Zu guter Letzt noch einmal zurück zur Politik: Was sollte sich die neue Bundesregierung vornehmen, die im September gewählt wurde, um zum Erreichen der Nachhaltigkeitsziele beizutragen?
Das Thema Nachhaltigkeit wird für jede zukünftige Bundesregierung zentral sein. Unsere Verantwortung für die globale Prosperität im 21. Jahrhundert ist groß. Das heißt nicht, dass wir aus schlechtem Gewissen über die Unfairness in der Welt eigene, nationale Interessen vernachlässigen müssten oder dass wir keine rationale Politik betreiben können. Vielmehr geht es darum, Lösungen zu finden, die nicht nur uns nutzen, sondern auch denen, mit denen wir eine globale Schicksalsgemeinschaft bilden. Das kann dann eben auch eine aus ökonomischen Gesichtspunkten heraus gestaltete Lösung sein wie der globale CO2-Preis. Rationalität und Herz zu verbinden ist möglich und nötig.