Unzählige handschriftliche Seiten aus Tagebüchern sowie Fotos warten darauf, ausgewertet zu werden. Für die Historiker sind sie eine wertvolle Quelle der Kolonialgeschichte. © Damian Gorczany

Kolonialgeschichte Einblicke in Alltag und Gedankenwelt eines Völkermörders

Unbestritten ist heutzutage, dass deutsche Truppen zu Kolonialzeiten in Südwestafrika einen Völkermord begangen haben. Ein Editionsprojekt eröffnet die Perspektive eines Täters – und zwar nicht irgendeines Täters.

Es sind nur fünf unscheinbare Notizbücher aus den Anfängen des 20. Jahrhunderts. Doch sie haben Sprengstoffpotenzial. Lange befanden sie sich in Privatbesitz, waren der Öffentlichkeit gar nicht und der Forschung nur bedingt zugänglich. Jüngst forderten auch namibische Opferverbände ihre Herausgabe. Nun liegen sie den RUB-Historikern Dr. Andreas Eckl und Dr. Dr. Matthias Häussler zur Edition vor. Autor der Tagebücher ist kein geringerer als Lothar von Trotha – verantwortlich für eines der größten Verbrechen Anfang des 20. Jahrhunderts. 1904 und 1905 war er Oberkommandierender der sogenannten Schutztruppen in der Kolonie Deutsch-Südwestafrika, dem heutigen Namibia. Hier hatte er die Befehlsgewalt, als der Völkermord an zehntausenden OvaHerero begangen wurde.

Der Völkermord an den OvaHerero

Auf dem Gebiet des heutigen Namibia errichtete das Deutsche Reich unter Bismarck in den 1880er-Jahren die Kolonie Deutsch-Südwestafrika. Im Januar 1904 griffen die OvaHerero, eine Bantu sprechende Gruppe in Zentralnamibia, zu den Waffen, um der deutschen Herrschaft und Besiedlung ein Ende zu setzen. Der Krieg blieb lange Zeit ausgeglichen. Am Fuße des Waterbergs kam es am 11. August zu einer Reihe von Gefechten. Der Angriffsplan des Generalleutnant Lothar von Trotha scheiterte, und die OvaHerero flohen in die Omaheke-Steppe. Die deutschen Truppen konnten sie nicht mehr einholen; also besetzten sie auf Befehl Trothas die bekannten Wasserstellen am westlichen Saum der Omaheke. Die OvaHerero sollten das Land verlassen oder in der Steppe sterben. Abertausende von ihnen – genaue Zahlen liegen nicht vor – starben auf der Flucht. Es handelte sich dabei um den ersten Völkermord des 20. Jahrhunderts.

„Das war der unrühmliche Höhepunkt der deutschen Kolonialgeschichte“, sagt Andreas Eckl. „Heute gibt es ein großes politisches Bedürfnis, dieses Kapitel aufzuarbeiten.“ Die Quellen aber sind rar. Denn die Aktenbestände der Schutztruppen in Deutsch-Südwestafrika sind nicht erhalten: Die Originale wurden im Ersten Weltkrieg zerstört, die Kopien im Zweiten Weltkrieg. „Seit vielen Jahrzehnten war bekannt, dass Tagebücher des Oberkommandierenden Lothar von Trotha existieren“, erzählt Matthias Häussler. „Jeder wollte wissen, was darin steht. Aber sie waren nicht ohne Weiteres zugänglich.“ Die Bücher befanden sich im Privatbesitz des Familienverbandes von Trotha.

Brisantes Projekt zunächst abgelehnt

Jahrelang stand Häussler mit dem Familienverband in Kontakt. „Es hat einige Geduld gekostet, die Erlaubnis zu bekommen, dass wir die Bücher editieren dürfen“, erinnert er sich, „auch wenn früh eine gewisse Aufgeschlossenheit zu verspüren war.“ Seit Anfang 2021 arbeitet er nun am RUB-Institut für Diaspora- und Genozidforschung zusammen mit Andreas Eckl an dieser Edition, gefördert von der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Diese hatte das brisante Projekt zunächst abgelehnt, bewilligte es dann aber mit Auflagen doch, nachdem der Familienverband seine Bereitschaft zur Kooperation auch schriftlich verbürgt hatte.

Ich denke, die Deutsche Forschungsgemeinschaft macht diese Auflagen zu unserem Schutz.


Andreas Eckl

So dürfen die Wissenschaftler die Tagebücher zwar kritisch editieren, also mit Anmerkungen zum Kontext versehen und veröffentlichen. Allerdings dürfen sie keinen Bezug zur allgemeinen wissenschaftlichen Diskussion herstellen, den Inhalt also nicht bewerten. Außerdem müssen sie die Originalschriften mit veröffentlichen. „Ich denke, die Deutsche Forschungsgemeinschaft macht diese Auflagen zu unserem Schutz“, erklärt Eckl. „Die Deutungshoheit soll nicht allein bei der RUB liegen, damit wir uns nicht angreifbar machen.“

Andreas Eckl (links) und Matthias Häussler erforschen mit Herzblut seit vielen Jahren die deutsche Kolonialgeschichte. © Damian Gorczany

800 Seiten – teils zu Pferde geschrieben

Insgesamt 800 Seiten umfassen die Notizbücher. „Die Originale sind in einem erstaunlich guten Zustand dafür, dass sie nicht archivisch aufbewahrt wurden“, sagt Häussler. Trotzdem war es eine Herausforderung, sie zu entziffern. „Lothar von Trotha hat seine Notizen teils an festen Plätzen wie Windhuk oder auf dem Schiff verfasst. Teils aber auch auf dem Marsch und auf dem Pferd – und so sehen sie dann auch aus“, schildert er. „Mittlerweile haben wir 99,8 Prozent des Inhalts geknackt“, fügt Häussler hinzu. „Im Lauf der Zeit haben wir uns an das Schriftbild gewöhnt und sind immer schneller geworden.“

Handschriften aus der Zeit sind mitunter schwer zu entziffern, denn sie protokollieren indirekt immer auch die Umstände ihrer Entstehung. © Damian Gorczany

Eins stellen die Historiker von vorneherein klar: Die Tagebücher spielen keine Rolle für die Bewertung, ob die Kolonialtruppen in Deutsch-Südwestafrika einen Völkermord begingen oder nicht. „Daran gibt es sowieso keinen Zweifel“, sagt Andreas Eckl. „Es war Völkermord. Und dem widersprechen die Tagebücher auch nicht.“ Die Historiker erhoffen sich, in den Schriften mehr zu den Hintergründen des Völkermords zu erfahren, zu Handlungsmotivationen, Details der Kriegsführung, Befehlsstrukturen und der Frage, ob es ein von langer Hand geplanter Genozid war oder ein Prozess der Eskalation.

Das Besondere an jedem Tag dokumentiert

Die Tagebücher zeigen laut Eckl und Häussler einen Oberkommandierenden, der sehr von sich eingenommen war und der die Privilegien, die diese exponierte Stellung mit sich brachte, genoss. Es ist zwar auch Persönliches enthalten, aber überwiegend sind die Zeilen sachlich formuliert. Das belegt ein Beispiel: Während Lothar von Trothas Dienstzeit verstarb seine Frau. Diesem Verlust widmet der Autor jedoch nur wenige Worte. Ausführlich beschreibt er hingegen die Aufwartungen, die er erfuhr – etwa die Flaggen auf halbmast oder Kondolenztelegramme vom Kaiser und Reichskanzler.

„Dennoch ist es erstaunlich, was er alles nicht notiert hat“, sagt Häussler. So würden viele Routinen der Kommandoführung nicht beschrieben. „Trotha hält immer das Besondere an jedem Tag fest, das ist ein Charakteristikum der Bücher, beispielsweise wenn sich eine bestimmte Person erstmals vorstellte, es Streit gab oder ein spezielles Essen“, veranschaulicht der Forscher. „Er nutzte das Tagebuch als Erinnerung an besondere Erlebnisse aus seinem Alltag.“

Die Notizen Trothas werfen laut Andreas Eckl auch neue Aspekte zur Person auf: „Er war nicht nur der Schlächter, als der er immer dargestellt wird“, sagt er. „Der war er auch, aber eben auch mehr.“

Zweite Quelle: Trothas Fotoalbum

Ihre kritische Edition der Tagebücher ergänzen die Bochumer Wissenschaftler um eine weitere besondere Quelle: ein Fotoalbum, das Lothar von Trotha nach seiner Rückkehr aus Afrika anfertigte, mit größtenteils selbst gemachten Fotos. „Er hat vier Exemplare erstellt und sie sozusagen an die damaligen Influencer verschickt“, erklärt Andreas Eckl. Eines dieser Exemplare hat der RUB-Forscher privat erworben; denn Eckl arbeitet seit über 20 Jahren auch als Antiquar mit einer besonderen Sammelleidenschaft für Objekte der Kolonialgeschichte. Nicht nur Trothas Tagebücher, auch das Fotoalbum mit seinen mehr als 200 Bildern werden die Forscher veröffentlichen.

Eine Seite aus Lothar von Trothas Fotoalbum, das Andreas Eckl in seiner Tätigkeit als Antiquar vor vielen Jahren erwarb © Damian Gorczany

Anders als die Notizbücher, die stets das Besondere eines Tages festhalten, dokumentieren die Fotos das Alltagsleben in Afrika. Nur drei der 35 Seiten im Album sind dem Herero-Feldzug gewidmet: Dort ist beispielsweise ein Bild vom Tod eines deutschen Offiziers zu sehen oder Aufnahmen aus dem Lazarett oder Krankenhäusern. Ansonsten stehen touristische Aspekte im Vordergrund: Die Aufnahmen zeigen die Landschaft, Pferde, das Reisezelt, Offiziere beim Essen oder Schlafen. Auch gibt es viele Bilder von Afrikanern, wobei meist unklar bleibt, wer diese Personen waren.

Keine Anzeichen für extremen Rassismus

Weder im Tagebuch noch im Fotoalbum haben die Forscher Anzeichen für einen extremen Rassismus finden können – obwohl Trotha landläufig als Rassenkrieger par excellence gilt. „Das ist eigentlich befremdlich“, sagt Eckl. „In anderen Quellen äußern sich rassistische Einstellungen zum Beispiel dadurch, dass Afrikaner als hinterhältig, grausam oder faul geschildert werden. Solche Vorstellungen spiegeln sich weder in Lothar von Trothas Notizen noch in seinen Aufnahmen wider. Das heißt aber nicht, dass er nicht rassistisch gedacht hat.“

Ein Schatz aus Papier

Eckl und Häussler betonen, dass Tagebücher und Fotoalbum für den Oberkommandierenden nicht ausschließlich persönlichen Erinnerungsstücke waren, sondern für die Öffentlichkeit gedacht waren. Das trifft insbesondere auf das Fotoalbum zu. „Lothar von Trotha erzählt darin seine eigene Geschichte des Krieges“, so Andreas Eckl. Denn nach seiner Rückkehr aus Afrika war er kein gefeierter Held. Es gab durchaus Kritik an seiner Kriegsführung. Seine Schriften und mehr noch seine Bilder waren Trothas Versuch, dieser Kritik entgegenzuwirken. „Sie sollten vermitteln, dass alles so in Ordnung war, wie es gelaufen ist“, so Eckl weiter.

Er war nicht irgendein Kriegsteilnehmer und es ist nicht irgendein Tagebuch.


Matthias Häussler

„Für Historiker sind diese Quellen ein Schatz, dessen Bedeutung gar nicht hoch genug einzuordnen ist“, sagt Matthias Häussler, und Andreas Eckl ergänzt: „Lothar von Trotha war der Oberbefehlshaber der deutschen Truppen. Er war nicht irgendein Kriegsteilnehmer und es ist nicht irgendein Tagebuch, sondern eine hervorragende Quelle für die Geschichte des Deutschen Reichs. Es ist mit nichts zu vergleichen.“ Voraussichtlich Anfang 2023 werden Fotoalbum und Tagebücher dann der Öffentlichkeit zur Verfügung stehen.

Von links: Projektmitarbeiter Dr. Andreas Eckl, Prof. Dr. Mihran Dabag, Gründungsdirektor des Instituts für Diaspora- und Genozidforschung der RUB, Privatdozentin Dr. Kristin Platt, Leiterin des Instituts, und Projektmitarbeiter Dr. Dr. Matthias Häussler © Damian Gorczany

Die Arbeit mit Tagebüchern

Matthias Häussler und Andreas Eckl arbeiten seit jeher mit Tagebüchern als Quellen und plädieren dafür, dass diese öfter in die historische Forschung einbezogen werden sollten. „Das geschieht noch relativ selten“, sagt Häussler. „Dabei sind Tagebücher sehr gute Quellen, wenn man sie zu deuten weiß. Natürlich darf man sie nicht wörtlich lesen wie eine Einkaufsliste.“ Zur Publikation dieser Schriften als Quellen zur Kolonialgeschichte hat Eckl den Welwitschia-Verlag gegründet.

Nach der Veröffentlichung von Lothar von Trothas Tagebüchern (siehe Haupttext) ist mit dieser Arbeit noch lange nicht Schluss. Mittlerweile haben die Bochumer Forscher andere Tagebücher übergeben bekommen, die sie auswerten wollen. „Im Herbst 2021 hat ‚Die ZEIT‘ einen Artikel über unsere Arbeit mit den Büchern von Lothar von Trotha gebracht“, erinnern sich die Wissenschaftler. „Daraufhin haben sich Leserinnen und Leser bei uns gemeldet, die ebenfalls noch Tagebücher aus der Kolonialzeit besaßen, und uns diese ausgehändigt.“

Auch ohne derlei willkommene Zuschriften haben die Forscher alle Hände voll zu tun. Im Nachlass Lothar von Trothas entdeckte Häussler tausende handschriftliche Seiten Tagebuch. Diese stammen aus Trothas Zeit als Kommandeur der Kaiserlichen Schutztruppe für Deutsch-Ostafrika von 1894 bis 1897 und als Brigadeführer im sogenannten Boxer-Aufstand in China in den Jahren 1900/01. „Trotha verkörperte wie kein anderer Offizier im deutschen Kolonialreich die imperiale Biografie, denn es zog ihn immer wieder an Orte, an denen es brannte“, erläutert Häussler. Mit der Analyse der Tagebücher wollen die Bochumer Historiker eine neue Perspektive einnehmen, die sich auf die konkreten Personen und Netzwerke bezieht, welche das Rückgrat des Kolonialreichs darstellten. Die Vorgänge in Deutsch-Südwestafrika werden bisher als Kontinuum mit dem Holocaust betrachtet; Eckl und Häussler wollen aber auch in die zeitlich entgegengesetzte Richtung blicken und die Strukturen der kolonialen Expansion des deutschen Kaiserreichs beleuchten. Dies soll im Rahmen weiterer Projekte geschehen.

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Veröffentlicht

Mittwoch
09. März 2022
09:15 Uhr

Dieser Artikel ist am 2. Mai 2022 in Rubin 1/2022 erschienen. Die gesamte Ausgabe können Sie hier als PDF kostenlos downloaden. Weitere Rubin-Artikel sind hier zu finden.

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