Dr. Dennis Krämer forscht als Soziologe am Institut für Medizinische Ethik und Geschichte der Medizin. © Damian Gorczany

Medizinethik Ein aufgezwungenes Geschlecht

Die Geschichte ist voll von beispiellosen Verbrechen. Welches aus Sicht der Medizinethik besonders schwerwiegend ist, beschreibt Dennis Krämer in unserer Serie.

Denken wir an Verbrechen, dann haben wir häufig stereotype Bilder im Kopf: Finstere Gestalten, die in böser Absicht Straftaten begehen, anderen Leid zufügen und aus purem Egoismus gegen rechtliche Gebote verstoßen. Doch es gibt auch jene Verbrechen, die aus der Absicht Gutes zu bewirken resultieren, die einem Zeitgeist entspringen und sich erst Jahre später als Verbrechen offenbaren.

Die in den vergangenen Jahren viel diskutierte medizinische Behandlung von Personen mit Varianten der Geschlechtsentwicklung stellt für mich ein solches Verbrechen dar. Ausgehend von einer einflussreichen medizinischen Leitlinie wurden ab Mitte des 20. Jahrhunderts in zahlreichen Kliniken in Europa und den USA etliche Kinder, deren Körper sich nicht eindeutig einem weiblichen oder männlichen Geschlecht zuordnen ließen, operativ in eines von zwei als naturgegeben angenommenen Geschlechtern eingegliedert, in erster Linie an ihren Geschlechtsorganen. Die kritische Forschung spricht hier auch von einer medizinischen Praxis der Naturalisierung: also der Anpassung von Geschlechtskörpern an eine angenommene Vorstellung von der Natur, die die Grenzen der Eingriffe definiert.

Traumatisierende Eingriffe

Sicherlich taten die Behandelnden dies nicht in der Absicht, den Kindern zu schaden. Angesichts der gesellschaftlichen Tabuisierung des Themas waren die frischgebackenen Eltern häufig voller Irritation und Sorge, ihr Kind würde ohne ein eindeutiges Geschlecht ausgegrenzt und unglücklich werden.

Erst im Erwachsenenalter berichteten viele dieser Kinder von den traumatisierenden Eingriffen, die zur Herstellung eines eindeutigen Geschlechts notwendig sind. Und davon, als Erwachsene die Verbindung zu ihrem ursprünglichen Geschlecht und ihr sexuelles Begehren verloren zu haben.

Die Geschichten jener, die sich seit Ende des 20. Jahrhunderts öffentlich outen, um Einblicke in ihre Behandlungs- und Lebensgeschichten zu geben, prägen unseren heutigen gesellschaftlichen Umgang mit diesem Thema. Die Früchte ihres Engagements zeigen sich zum Beispiel in einer sich international vollziehenden Anerkennung weiterer Geschlechter, in Deutschland zum Beispiel an der Einführung eines Geschlechts „divers“ oder am kürzlich erlassenen Verbot von Operationen an Geschlechtsorganen von Kindern mit Varianten der Geschlechtsentwicklung.

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Veröffentlicht

Dienstag
15. März 2022
10:24 Uhr

Von

Dennis Krämer

Dieser Artikel ist am 2. Mai 2022 in Rubin 1/2022 erschienen. Die gesamte Ausgabe können Sie hier als PDF kostenlos downloaden. Weitere Rubin-Artikel sind hier zu finden.

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