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Unsichtbare soziale Akteure sichtbar machen
Bisher weitgehend unerschlossene Zensusdaten der Zeit zwischen 1880 und 1920 sollen Auskunft darüber geben, welche Handlungsstrategien die Einwohner Palästinas – über Kategorien wie Gender, Sprache oder Religion hinweg – verfolgten, um Herausforderungen auf individueller oder kollektiver Ebene zu bewältigen. Wie reagierten sie zum Beispiel auf ökonomischen Stress, inwiefern praktizierten sie Geburtenkontrolle und wie versuchten Migranten, in einem neuen Umfeld Fuß zu fassen? Diese und weitere Fragen verfolgt Prof. Dr. Johann Büssow, Inhaber der Professur für Orientalistik der RUB, in seinem Projekt „Late Ottoman Palestinians“, kurz LOOP. Das Projekt wird vom European Research Council (ERC) mit 2 Millionen Euro für fünf Jahre gefördert.
Die Wurzeln der Gegenwart
Die vier Jahrzehnte zwischen 1880 und 1920 waren im östlichen Mittelmeerraum geprägt von europäischem Imperialismus, osmanischem Statebuilding und Globalisierung. Sie waren ebenso eine Epoche tiefgreifender sozialer Differenzierung, angetrieben unter anderem von menschlicher Mobilität und Migration in bislang ungekanntem Ausmaß. „In dieser Epoche liegen daher die Wurzeln zahlreicher sozialer Formationen, die oft bis in die Gegenwart hinein relevant sind, wie zum Beispiel spezifische Siedlungsformen oder ethnisch-religiöse Gemeinschaften“, erklärt Johann Büssow.
In seinem ERC-Projekt „Late Ottoman Palestinians“ untersucht er diese Prozesse auf der Basis bisher weitgehend unerschlossener osmanischer Zensusdaten zur Region Palästina. In Kombination mit weiteren Quellen eröffnet der Zensus Einblicke in von der Forschung bislang vernachlässigte soziale Kategorien sowie Räume und Orte. Dazu gehören Frauen, Kinder oder Handwerker ebenso wie ländliche Marktzentren oder städtische informelle Siedlungen.
Empirisch basierte Modelle entwickeln
„Das Hauptziel des Projektes ist es, empirisch basierte Modelle zu entwickeln, mit denen sich soziale Strategien innerhalb der Region und darüber hinaus vergleichen lassen. Teilprojekte zur Entstehungsgeschichte des Zensus sowie zu quantitativ-statistischen Analysen eröffnen zusätzliche Perspektiven“, so der Forscher.
Der Forschungsprozess ist als interpretativer Loop konzipiert: Die beteiligten Forscherinnen und Forscher gewinnen dabei zunächst Strukturdaten aus dem Zensus, anhand derer sie Muster identifizieren und Hypothesen aufstellen. Diese Hypothesen überprüfen sie anhand komplementärer Quellen wie zeitgenössischer Texte, Bilder und Landkarten. Ein Historisches Geoinformationssystem (HGIS) erlaubt es, die Vielfalt der gewonnenen Informationen miteinander in Beziehung zu setzen und statistisch auszuwerten. Am Ende steht die Interpretation und Darstellung der Ergebnisse, verbunden mit dem Ziel, zu einer transregional vergleichenden Sozial- und Kulturgeschichte beizutragen.
Johann Büssow studierte zwischen 1996 und 2002 Islamwissenschaft, Politikwissenschaft und Judaistik in Berlin, Bonn und Köln und verbrachte während seines Studiums ein Semester als DAAD-Stipendiat an der Universität Kairo, Ägypten. Zwischen 2008 und 2012 leitete er die Arbeitsgruppe „Herrschaft“ im Sonderforschungsbereich 586 „Differenz und Integration“ der Deutschen Forschungsgemeinschaft, der an den Universitäten Leipzig und Halle-Wittenberg beheimatet war. 2011 schloss er seine Dissertation an der Freien Universität Berlin ab. 2012 bis 2013 forschte er am Orient-Institut Beirut der Max-Weber-Stiftung im Libanon. 2013 bis 2018 war er Professor für Islamische Geschichte und Kultur an der Eberhard-Karls-Universität Tübingen. Seit 2018 ist er Professor für Orientalistik an der RUB.
17. März 2022
12.02 Uhr