Martin Werding ist neues Mitglied im Rat der Wirtschaftsweisen.
© Damian Gorczany

Volkswirtschaftslehre Wenn die Boomer in Rente gehen

Die immer älter werdende Bevölkerung setzt den Arbeitsmarkt und das Rentensystem unter Druck. Trotzdem sollte man sich nicht bange machen lassen, meint der neue Wirtschaftsweise Martin Werding.

Arbeitsmarkt und soziale Sicherungssysteme bekommen den Druck der zunehmend älter werdenden Bevölkerung immer mehr zu spüren. Im Interview spricht der kürzlich zum Wirtschaftsweisen ernannte RUB-Volkswirt Prof. Dr. Martin Werding von den akuten Herausforderungen, die der demografische Wandel mit sich bringt, und diskutiert Maßnahmen, wie wir, Jung und Alt, diesen begegnen und Vorsorge treffen können.

Herr Professor Werding, die Bewältigung des demografischen Wandels ist eine der zentralen Herausforderungen unseres Landes. Sie untersuchen die Entwicklung schon seit Jahren wissenschaftlich. Was sagen Ihre Berechnungen?
Der Anteil der alten Menschen an der Gesamtbevölkerung Deutschlands steigt seit Jahren deutlich an. Betrachtet man eine einfache Kennziffer wie den demografischen Altenquotienten, zeigt sich, wie akut die Lage ist. Der Altenquotient setzt Menschen im Rentenalter von 65 und älter ins Verhältnis zu 100 Menschen, die im erwerbsfähigen Alter zwischen 15 und 64 sind. Schaut man sich diese Kennzahl für den Zeitraum von 2000 bis 2035 an, verdoppelt sie sich in dieser Zeit. In den ersten 20 Jahren – die letzten Ist-Daten stammen von 2020 – ist schon ein Drittel dieses Anstiegs passiert.

Wir stehen vor einer akuten Phase der demografischen Alterung.

Es bleiben demnach noch 15 Jahre, in denen weitere zwei Drittel hinzukommen. Das heißt, wir stehen jetzt vor einer akuten Phase der demografischen Alterung.

Wie wirkt sie sich auf den Arbeitsmarkt aus?
Für den Arbeitsmarkt bedeutet der demografische Alterungsprozess, dass die Zahl der Erwerbspersonen deutlich zurückgehen wird. Momentan rechnen wir mit einem Rückgang um etwa 150.000 Personen pro Jahr. Unsere Simulationen zeigen, dass dieser Trend weiter steigen wird: Um die 2030er-Jahre werden 300.000 Personen mehr aus dem Arbeitsmarkt scheiden als neu in den Markt eintreten. In diesen Vorausberechnungen wird bereits eine hohe Zuwanderung mit berücksichtigt. Ohne Zuwanderung würden im Jahr 2030 400.000 Menschen mehr aus dem Arbeitsmarkt ausscheiden als eintreten.

Der demografische Wandel wird sich auf den Arbeitsmarkt auswirken.
© Damian Gorczany

Was bedeutet diese Entwicklung für den Arbeitsmarkt, Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer? Ist den Jüngeren eine Stelle sicher?
Im Prinzip ist das eine gute Nachricht für alle, die jetzt neu in den Arbeitsmarkt eintreten. Obwohl auch die Rahmenbedingungen entscheidend sind: Wie entwickeln sich die Löhne, die Lohnnebenkosten? Was für Anreize setzt das jeweilige Arbeitsrecht? In diesen Bereichen haben wir in den vergangenen 20 Jahren viele Dinge flexibilisiert.

Das hat zwei Seiten: Einige Beschäftigungsverhältnisse haben sich verschlechtert. Manche sprechen auch von einer Prekarisierung. Es sind in dieser Zeit aber auch viele reguläre, gut bezahlte und hochqualifizierte Jobs entstanden. Da hat sich der Arbeitsmarkt also positiv entwickelt. Wenn nun die Demografie dafür sorgt, dass Arbeitgebende händeringend Arbeitnehmende suchen, dann müssen wir darauf achten, dass wir die Rahmenbedingungen am Arbeitsmarkt erhalten und verbessern.

Der Wettbewerb um Talente wird härter. Können junge Leute auch mehr einfordern?
Die aktuelle Arbeitsmarktentwicklung ist sehr gut, trotz aller Krisen. Davon können Jung und Alt profitieren. Die Rücksichten, die die jungen Leute heute nehmen wollen, zum Beispiel auf ihre Familien, sind sehr berechtigte Forderungen. Als Arbeitgeber muss man sich attraktiv zeigen, auf solche Wünsche, wie etwa die 35-Stunden-Woche, eingehen. Man darf so etwas in der Belegschaft nur nicht einseitig verteilen.

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Mit welchen Maßnahmen können wir den Engpässen auf dem Arbeitsmarkt begegnen – auch angesichts des schon bestehenden Fachkräftemangels?
Wenn man rein quantitativ fragt, was den stärksten Effekt haben könnte, würde ich sagen: die Nutzung erreichbarer Qualifikationen. Das fängt im Bildungssystem an. Hier müssen wir für echte Chancengleichheit sorgen, sodass alle ihre Möglichkeiten nutzen können. Das Qualifikationsniveau von Frauen ist im Durchschnitt besser als das von Männern, am Ende arbeiten sie jedoch weniger. Hier gibt es noch Handlungsbedarf.

Wie können wir die Frauenerwerbsbeteiligung steigern?
In den vergangenen 40 Jahren ist die Frauenerwerbsbeteiligung stark gestiegen. Aber da gibt es noch Luft nach oben, insbesondere im Bereich des Arbeitsvolumens. Frauen würden nachweislich mehr arbeiten, als sie es gerade tun, wenn zum Beispiel die Betreuungsmöglichkeiten und Unterstützungsangebote für junge Eltern besser wären. Hier sind sowohl Arbeitgebende als auch die staatliche Familienpolitik gefragt.

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Welche Rolle spielt die Zuwanderungspolitik?
Zuwanderung ist und bleibt für den deutschen Arbeitsmarkt enorm wichtig. Wir haben zwar ein paar strukturelle Nachteile – wir haben eine Sprache, die schwierig ist, und wir liegen auch nicht im sonnigen Süden Europas oder der Welt –, das Interesse im Ausland ist dennoch groß. Und es darf nicht abbrechen.

Wie können wir die Attraktivität des deutschen Arbeitsmarktes für Talente aus Zuwander-Ländern steigern?
Wir müssen dafür sorgen, dass Zuwanderungsmöglichkeiten, auch unter qualifizierten Personen aus dem EU-Ausland, bekannter werden. Und wir müssen uns stärker bemühen, vorhandene Qualifikationen von ausländischen Arbeitskräften schneller anzuerkennen, ihnen die Möglichkeit zu geben, sich reibungslos einzugliedern und zu integrieren.

Zuwanderung hat einen Netzwerkeffekt.

Zuwanderung hat einen Netzwerkeffekt: Erfolgreich Zugewanderte berichten zu Hause, wie es ihnen geht, und ziehen weitere Zuwanderungen nach sich. Wenn wir den aktuellen Strom abreißen lassen, dann handeln wir uns ein echtes Problem ein. Dann verschärfen sich die Engpässe am Arbeitsmarkt immer weiter.

Aktuell zeichnen sich große Umbrüche ab, getrieben unter anderem auch von der globalen Digitalisierung. Deutet sich eine Zeitenwende an?
Technologisch wird sich eine ganze Menge ändern. Die erste Digitalisierungsrunde haben wir weitestgehend hinter uns. Der zweite Digitalisierungsschub steht uns noch bevor. Das Ganze hat Qualitäten, die wahrscheinlich noch einschneidender sind als die erste Automatisierung in den 1960er-Jahren. Der Einzug von Robotern in die industrielle Produktion war eine Zäsur und hat zu den Arbeitsmarktproblemen in den 70er- und 80er-Jahren geführt. Der Strukturwandel hat Regionen geschwächt, aber insgesamt funktioniert.

Wenn Sie eine Prognose wagen würden: Wie sieht unsere Arbeitswelt in 50 Jahren aus?
Das halte ich für unvorhersagbar. Wir hätten uns ja auch vor 50 Jahren vieles von dem, was heute unser Erwerbsleben bestimmt, nicht vorstellen können. Worauf wir aber vertrauen können, ist, dass technologische Umbrüche, wie die Digitalisierung, nie dazu führen werden, dass uns die Arbeit ausgeht. Dafür gibt es keine Anzeichen. Im Gegenteil: Es entstehen neue Aufgaben, die es so vorher nicht gegeben hat. Es wird leider Standorte und Berufe geben, die unter Druck geraten, wo vorhandene Qualifikationen nicht mehr zu dem passen, was auf dem Arbeitsmarkt besonders viel nachgefragt wird. Gerade in der Übergangszeit wird man sich auf neue Herausforderungen einstellen müssen, sich weiterbilden, qualifizieren, umlernen müssen.

Wenn wir die Rahmenbedingungen nicht versauen, bleibt genügend Dynamik im Arbeitsmarkt.

Aber dass auf breiter Basis die Arbeit verschwindet? Das ist in den vergangenen 50 Jahren nicht passiert. Und dürfte auch in Zukunft nicht eintreten. Unsere gesamtwirtschaftliche Beschäftigungsentwicklung muss da nicht drunter leiden. Wenn wir die Rahmenbedingungen, wie etwa Lohnnebenkosten, nicht versauen, bleibt genügend Dynamik im Arbeitsmarkt.

Zu guter Letzt, was ist Ihr Rat als neuer Wirtschaftsweiser an die jungen Generationen im Hinblick auf Jobwahl und Altersvorsorge?
Was die Altersvorsorge betrifft: Da sollte man sich als junger Mensch darauf einstellen, dass man ab dem Moment, an dem man mit einem regelmäßigen Gehalt im Arbeitsmarkt angekommen ist, neben den Pflichtbeiträgen zur staatlichen Altersvorsorge, das heißt zur umlagefinanzierten Rente, einen gar nicht zu großen Anteil beiseitelegt für einen ertragsstarken Vorsorgefonds.

Wie wählt man da den richtigen Fonds?
Idealerweise würde die Politik da in Zukunft Rahmenbedingungen schaffen, sodass man weiß, was hier die bestmögliche Form ist und nicht ratlos vor Hunderten von Produkten steht. Wir reden hier über eine – vielleicht sogar staatlich verwaltete – Aktienrente, also ein standardisiertes Produkt. In Schweden gibt es so etwas bereits: Der dortige Staatsfond hat einen 40-prozentigen Marktanteil und zeigt eine der besten Performances. Wenn man solche Vorgaben hat, muss man sich als junger Mensch nicht mehr so einen Kopf machen und hat in 40 bis 50 Jahren auskömmliche Altersvorsorge zu erwarten.

Sich nicht bange machen und die Laune verderben lassen.

Darüber hinaus lautet meine zentrale Botschaft: sich nicht bange machen und die Laune verderben lassen durch die großen Risiken, sondern mit guten Qualifikationen in den Arbeitsmarkt starten, schauen, was man erreichen kann, und sich politisch engagieren.

TV-Empfehlung

„Wer bezahlt die Zukunft?“ – Dieser Frage widmet sich eine aktuelle, dreiteilige Dokumentation im MDR. Die Reihe geht den großen gesellschaftlichen Fragen der Zukunft auf den Grund – Klima, Rente, Staatsschulden. Welche Ideen gibt es und was ist der Preis dafür? Auf der Suche nach Antworten kommen Expertinnen und Experten aus Wirtschaft, Wissenschaft und Psychologie zu Wort, wie etwa Martin Werding von der RUB.

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Veröffentlicht

Mittwoch
19. Oktober 2022
09:22 Uhr

Dieser Artikel ist am 2. November 2022 in Rubin 2/2022 erschienen. Die gesamte Ausgabe können Sie hier als PDF kostenlos downloaden. Weitere Rubin-Artikel sind hier zu finden.

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