Im Sportunterricht lässt sich der faire und respektvolle Umgang miteinander lernen. © Roberto Schirdewahn

Im Gespräch Die Ungewissheit aushalten

Wie Werte unseres Zusammenlebens – Fairness, Toleranz und Respekt – im Sportunterricht erfahrbar werden, erklärt Sportpädagoge Christian Gaum im Interview.

„Zusammenhalt geht nicht ohne Differenzen“, meint Prof. Dr. Christian Gaum. Im Gespräch erzählt der Sportpädagoge, wie sich im Sportunterricht der faire und respektvolle Umgang miteinander lernen lässt. Gaum ist überzeugt, dass körperlich spürbare Erfahrungen von Werten wie Fairplay wichtig sind für das Zusammenleben in pluralistischen, demokratischen Gesellschaften. Dabei bricht er eine Lanze für einen Sportunterricht, der sich vom leistungsorientierten Vereinssport löst und unterschiedliche Perspektiven auf Bewegung, Spiel und Sport zulässt.

Herr Professor Gaum, was bedeutet für Sie Zusammenhalt und welche Werte verknüpfen Sie damit?
Unsere Fähigkeit, am Empfinden und an den Gefühlen anderer Menschen teilzunehmen: Das hält unsere Welt zusammen. Solidarität halte ich für eine fundamental wichtige Fähigkeit und für einen Wert, der entscheidend dafür ist, dass sich Gemeinschaft und Zusammenhalt überhaupt stabil halten können.

Christian Gaum leitet an der Ruhr-Universität den Lehr- und Forschungsbereich Sportpädagogik. © Roberto Schirdewahn

In meiner Disziplin interessiere ich mich für Werte wie etwa Fairness, Toleranz und Respekt, die man als Werte des Sports kennt, die aber natürlich nicht nur Werte des Sports sind, sondern allgemeine Werte unseres sozialen Zusammenlebens.

Nun tauchen im sportlichen Miteinander auch negative Werte auf, wie etwa Unfairness oder Rücksichtslosigkeit. Wie stehen Sportpädagoginnen und Sportpädagogen dazu?
Für die Sportpädagogik ist es ganz wichtig zu verstehen, dass es auch diese Schattenseiten des Sports – Unfairness, fehlenden Respekt, Intoleranz – gibt. Ich würde noch weiter gehen: Ein zentrales Problem besteht darin, dass Werte, die sehr positiv sein können, ins Negative umschlagen können, also ambivalent sind. Leistung ist zum Beispiel ein pädagogisch diffiziler, ambivalenter Wert, weil er dahin umschlagen kann, dass ich meine Leistung in den Vordergrund stelle und sie nur noch dadurch definiere, dass ich andere hinter mir lasse. Das ist ja nicht unüblich im Sport. Leistung wird dann mit Erfolg verwechselt und damit müssen wir in der Praxis des Sports vorsichtig umgehen.

Wie gelingt die Vermittlung der gewünschten Werte, etwa im Sportunterricht?
Wir müssen uns bewusst machen, dass Sportunterricht nicht immer automatisch Positives leistet. Ein klassisches Beispiel: Der Lehrende sagt: „Und jetzt machen wir noch ein Wettkampfspielchen und die Verlierer räumen die Halle auf.“ Die Verlierer werden also sanktioniert. Das sorgt dafür, dass die Kinder und Jugendlichen lernen: „Hier zählt nur der Sieg.“

Entscheidend für die Vermittlung von Werten im und durch den Sport ist, dass wir nicht rein kognitiv und wissensbasiert an die Vermittlung rangehen. Sonst verschenkt der Sportunterricht ein großes Potenzial, denn hier kann ich die Werte im Unterricht unmittelbar erfahren. Ich habe also nicht nur gehört „Ich sollte dies und das tun“, sondern ich merke und spüre, wie es sich anfühlt, wenn mir jemand ohne Respekt begegnet.

In welchen konkreten Situationen können Schülerinnen und Schüler solche Erfahrungen machen?
Im Sportunterricht wird viel gespielt. Spielen ist ein menschliches Grundbedürfnis. Beim Spielen lernen wir den Umgang mit anderen. Oder anders gesagt: Man lernt die Koordination des eigenen Handelns mit dem Handeln anderer. Als Lehrkraft sollte ich die Kinder und Jugendlichen, wenn möglich, direkt mit in die Spielgestaltung einbinden. Sie können beispielsweise mitbestimmen, welche Regeln aufgestellt werden. So lernen sie, dass sie Verantwortung dafür tragen, wie sich das Spiel später entwickelt und was sie dabei erfahren.

Im nächsten Schritt, während des Spiels, erleben sie dann, wie sich das Spiel anfühlt: Fühlt es sich für alle gut an, oder nur für die, die gewonnen haben? Warum ist das so?

Unsere Forschung hat gezeigt: Kinder und Jugendliche haben ein ziemlich feines Gespür dafür, wann ein Spiel funktioniert und wann nicht. Man hat keinen Spaß an Spielen, die gekennzeichnet sind durch permanente Nickeligkeiten oder intolerantes Verhalten.

Wie kann man diese Erfahrungen empirisch messen?
Solche körperlichen Erfahrungen kann ich nicht direkt messen. Den Befragten fällt es sehr schwer, das zu verbalisieren. Die Sprache des Sports ist nicht das gesprochene Wort. Dennoch ist es uns gelungen, über erzählgenerierende Interviews ihre Beobachtungen und Erfahrungen festzuhalten. Das ist eine aufwendige, aber lohnenswerte qualitative Methode.

Darüber hinaus haben wir mit quantitativ ausgerichteten Fragebögen erfragt: Welchen Wert messen Kinder und Jugendliche den Kardinaltugenden, etwa Fairness bei? Wie verstehen sie Fairness? Hat das nur etwas mit Regeln zu tun? Oder auch mit Gesten: sich aufhelfen, füreinander da sein, der Handshake nach dem Spiel. Und es gibt Personen, die sagen, Fairness ist nur so lange gut, wie sie mir nützt.

Was hat die Auswertung dieser Fragebögen ergeben?
Für den Schulsport sind die Ergebnisse ermutigend, für den organisierten Sport eher ernüchternd. Je länger Kinder und Jugendliche im organisierten Wettkampfsport sind und je höher ihre Leistungsklasse, desto eher neigen sie dazu, ein instrumentelles Fairnessverständnis zu entwickeln: Ich bin für Fairness, so lange wie sie mir von Nutzen ist. Und das primäre Ziel ist dabei oft der Erfolg.

Insgesamt, das gilt für den organisierten Wettkampfsport als auch den Schulsport, hängt die Bewertung von Werten wie Toleranz und Fairness davon ab, wie tolerant man gegenüber einer gewissen Offenheit im Spiel ist. Wenn Menschen es sehr schätzen, dass sie nicht wissen, wie das Spiel ausgeht, dann sind ihnen auch Toleranz und Fairness wichtig. Alle diejenigen, die absolute Gewissheit haben wollen, die um jeden Preis gewinnen wollen, erachten Toleranz und Fairness gar eher als hinderlich. Letztere haben ein Problem damit, die Ungewissheit auszuhalten.

Es lohnt sich, Situationen der Ungewissheit aufzusuchen.


Christian Gaum

Welche Schlüsse ziehen Sie daraus für die Sportdidaktik?
Es geht darum, die Ungewissheiten des Lebens, oder hier des Sports, freudig aufsuchen zu können. Und das ist etwas, das zeigen unsere Befragungen, was die Schülerinnen und Schüler auch spüren und benennen können. Sie finden es nicht nur gut und fair, wenn sich alle an die Regeln halten, sondern auch, wenn das Spiel funktioniert und alle die Chance bekommen, erfolgreich zu sein, der Spielprozess offenbleibt. Es lohnt sich also, Situationen der Ungewissheit aufzusuchen, denn diese ermöglichen erst ein Spiel.

Lässt sich diese Erkenntnis nicht auch auf andere gesellschaftliche Bereiche übertragen?
Ja, der Umgang mit Ungewissheiten ist hochgradig relevant für die Demokratiepädagogik. Hier geht es darum, jungen Menschen das Aushalten von Widersprüchen, Mehrdeutigkeiten, Meinungsverschiedenheiten und Konflikten zu vermitteln. Dafür ist es wichtig, dass Kinder und Jugendliche früh lernen, dass sie ihre ganz persönlichen Interessen nicht immer vollends durchsetzen können und dass sich auch nicht alle Konflikte lösen lassen. Zu merken, dass der Konflikt demokratisch wichtig ist – das wäre eine Stellschraube. Ich glaube, hierzu kann der Sport einen kleinen Beitrag leisten.

Ich plädiere für einen Sportunterricht, der sich vom leistungsorientierten Vereinssport löst.


Christian Gaum

Wie könnte das aussehen?
Im Sportunterricht können soziale Aushandlungsprozesse körperlich erfahren werden. Dafür kann man die gemeinsame Bewegungs- und Spielgestaltung zum Thema machen. Ich kann zum Beispiel Kinder und Jugendliche Bewegungschoreografien entwickeln lassen – mit Bällen und Reifen etwa. Dabei muss dann nicht nur verbal, sondern eben sich bewegend ein Konsens gefunden werden.

Ich plädiere dabei ganz stark für einen Sportunterricht, der sich vom leistungsorientierten Vereinssport löst. Wieso sollten wir im Schulsportunterricht auch die Sportvereine kopieren? Der Sportunterricht ist nicht freiwillig, sondern verpflichtend. Hier kommt eine sehr heterogene Gruppe zusammen, die mal mehr, mal weniger begeisterungsfähig ist. Der Schulsport muss unterschiedliche Bewegungen und Perspektiven zulassen. Und darin liegt ein gewisses Bildungspotenzial: Wenn sie gemeinsam ihren Sport gestalten und dabei Begeisterung für die Bewegung, Spiel- und Sportkultur entwickeln, dann kann durch Sport, vorsichtig formuliert, auch etwas Gutes für den gesellschaftlichen Zusammenhalt geleistet werden.

Welche Rolle spielen dabei die Sportlehrerinnen und Sportlehrer?
Der Sport allein kann es nicht richten. Es sind die Übungsleitenden, die Lehrkräfte, Trainerinnen und Trainer, die hier wertvolle Arbeit leisten und eine Vorbildrolle einnehmen. Aber auch Spitzensportlerinnen und Spitzensportlern wird häufig diese Vorbildfunktion zugesprochen. Die Frage hierbei ist: Was ist da vorbildhaft? Dass sie Medaillen gewinnen und erfolgreich sind? Oder ist es ihre Persönlichkeit, sind es ihre bewegenden Geschichten? Was kaum passiert ist, dass wir unsere Wertvermittlerinnen und -vermittler fragen, wie sie dazu stehen.

In einem neuen Forschungsprojekt untersuchen wir, wie Athletinnen und Athleten mit diesem ihnen zugeschriebenen Erziehungsauftrag, der Vorbildrolle umgehen. Der ehemalige NBA-Basketballspieler Charles Barkley soll einmal gesagt haben: Nur weil ich den Basketball dunken kann, heißt das nicht, dass ich auch eure Kinder erziehen sollte.

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Veröffentlicht

Dienstag
17. September 2024
08:41 Uhr

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