Preis für Forschungsarbeit Wie psychiatrisches Personal unbewusst Zwang ausübt
„Wenn du deine Medikamente nicht nimmst, darf deine Familie nicht kommen.“ Lässt ein solcher Satz einer Patientin oder einem Patienten wirklich eine Wahl?
Manche Zwangsmaßnamen wie eine Unterbringung oder Zwangsmedikation sind in der Psychiatrie gesetzlich geregelt. Im Alltag wird jedoch häufig auch über kommunikative Mittel Druck auf Patient*innen ausgeübt, um sie zu einer Behandlung oder Medikamenteneinnahme zu bewegen – etwa wenn eine Psychiaterin einem Patienten droht, dass die Familie nicht kommen darf, wenn er seine Medikamente nicht nimmt. Wann solche kommunikativen Mittel die Grenze zum informellen Zwang überschreiten, hat ein Team um Christin Hempeler von der Ruhr-Universität Bochum untersucht und dafür den Preis der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) erhalten.
Die Forschung fand im Rahmen der von Dr. Jakov Gather geleiteten Forschungsgruppe „SALUS“ statt. Der DGPPN-Preis für Philosophie und Ethik in Psychiatrie und Psychotherapie wurde am 1. Dezember 2023 verliehen. Die mit 6.000 Euro dotierte Auszeichnung wurde in diesem Jahr geteilt. Beide prämierten Projekte wurden an der Ruhr-Universität Bochum durchgeführt.
Die Bochumer Preisträgerinnen und Preisträger
Auf den Kontext kommt es an
„Wenn ich einem Patienten sage, dass er seine Familie nicht sehen darf, wenn er seine Medikamente nicht nimmt, ist das eine Drohung“, sagt Christin Hempeler vom Institut für Medizinische Ethik und Geschichte der Medizin. Als Bewertung legt sie dabei zugrunde, dass der Patient durch die Verweigerung der Medikamente schlechter gestellt wird, als es ihm zusteht – denn er hat ein Recht darauf, seine Angehörigen zu treffen.
Schwieriger wird es, wenn augenscheinlich ein Angebot vorliegt, etwa wenn die Fachkraft dem Patienten ein Päckchen Zigaretten anbietet, wenn er die Medikamente nimmt. „Wenn der Patient darauf verzichtet und nur der Bonus entfällt, dann ist es ein Angebot. Aber um zu beurteilen, ob es sich um Zwang handelt, reicht es nicht, nur das Gesagte zu betrachten“, erklärt Christin Hempeler. „Man muss auch beachten, was die Patient*innen glauben, was mit ihnen passieren wird, wenn Sie das Angebot ablehnen, und in welchem Kontext die Interaktion stattfindet.“ Beispielsweise spielt die Umgebung eine Rolle: Wenn ein Fixierbett im Raum steht, könnte der Patient berechtigterweise vermuten, dass er fixiert und zwangsmediziert wird, wenn er die Medikamente im Rahmen eines solchen Angebots verweigert, weil er dieses Vorgehen zuvor bei anderen Patient*innen beobachtet hat.
Uns ist bewusst, dass es ein schmaler Grat ist zu entscheiden, ob ein Patient berechtigterweise glauben könnte, dass ihm negative Konsequenzen drohen, wenn er eine Behandlung nicht möchte.
Christin Hempeler
„Uns ist bewusst, dass es ein schmaler Grat ist zu entscheiden, ob ein Patient berechtigterweise glauben könnte, dass ihm negative Konsequenzen drohen, wenn er eine Behandlung nicht möchte“, sagt Christin Hempeler. „Wir wollen unsere Arbeit nicht als Generalvorwurf gegen psychiatrische Fachkräfte verstanden wissen. Uns geht es darum, Verbesserungspotenziale aufzuzeigen und für das Thema zu sensibilisieren.“