Im Gespräch Wie man die Gesellschaft in Bewegung bringt

Sich mehr bewegen, gesünder essen, weniger CO2 produzieren – oft fällt uns das schwer. Lange glaubte man, daran sei nur mangelnde Selbstdisziplin schuld. Sozialpsychologe Wilhelm Hofmann sieht die Politik in der Pflicht.

Ob ich mich genug bewege, ist eigentlich meine Sache. Wenn sich allerdings ein Großteil der Bevölkerung zu wenig bewegt und aufgrund dessen viele Menschen krank werden, die Krankenkassen hohe Kosten stemmen müssen und die Wirtschaft unter dem Ausfall der Produktivität leidet, dann sind das gesamtgesellschaftliche Konsequenzen. Und denen entgegenzusteuern ist Aufgabe der Politik. Was die tun muss, damit ich öfters aufs Fahrrad steige, statt mit dem Auto zur Arbeit zu fahren, und warum es zu kurz gegriffen ist, auf die Selbstdisziplin des Einzelnen zu setzen, erklärt Sozialpsychologe Prof. Dr. Wilhelm Hofmann im Interview.

Herr Professor Hofmann, wie sind Sie heute zur Arbeit gekommen – mit dem Auto oder mit dem Fahrrad?
Mit dem Fahrrad. Obwohl das nicht ganz einfach ist, denn auf meiner Strecke gibt es kaum Fahrradwege, und wenn ich dann vom Botanischen Garten aus den Campus erreiche, ist es etwas umständlich, die verschiedenen Ebenen zu überwinden, um zu meinem Büro zu kommen.

Wilhelm Hofmann hat an der Ruhr-Universität Bochum die Professur für Sozialpsychologie inne. © Roberto Schirdewahn

Ist das nicht ein gutes Beispiel für Ihre Argumentation, dass es dem Einzelnen oft zu schwer gemacht wird, seine guten Vorsätze einzuhalten?
Ich denke schon. Man weiß aus interdisziplinärer Forschung, dass die Entscheidung, mit dem Fahrrad, statt mit dem Auto zu fahren, ganz stark davon abhängt, wie die Fahrrad-Infrastruktur in der eigenen Umgebung aussieht. Sind dort sichere, durchgängige Fahrradwege? Fühle ich mich da insgesamt wohl und zum Fahrradfahren „ermutigt“? Das ist mindestens so entscheidend wie die individuellen Faktoren. Deswegen ist es so wichtig, das zusammenzubringen. Man sollte nicht voreilige Schlüsse über Selbstdisziplin ziehen, ohne die Strukturen mit einzubeziehen, die Menschen umgeben. Wir denken ja auch nicht, dass etwa die Oldenburger oder Münsteraner über mehr Willensstärke verfügen als wir Bochumer, nur weil dort mehr Leute mit dem Fahrrad unterwegs sind.

Menschen mit hoher Selbstkontrolle können Versuchungen besser aus dem Weg gehen.

Doch auch die beste Fahrrad-Infrastruktur würde sicherlich nicht jeden aufs Rad steigen lassen. Warum schaffen manche es besser als andere, ihre Ziele zu verfolgen?
In der Tat gibt es große individuelle Unterschiede in der Fähigkeit, sich selbst zu kontrollieren. Eine Studie aus dem Jahr 2012 zeigt: Menschen mit hoher Selbstkontrolle können Versuchungen besser aus dem Weg gehen. Sie können ihre Umwelt umsichtiger navigieren oder mitgestalten, sodass sie nicht ständig Versuchungen ausgesetzt sind. Jemand, der zum Beispiel weniger Süßigkeiten essen will, würde gar nicht erst welche einkaufen.

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Wie können äußere Strukturen hierbei unterstützen?
Oft sind die Optionen, die schädlich für Gesundheit und Umwelt sind, billiger, sichtbarer oder leichter verfügbar als gesündere oder nachhaltigere Alternativen. Die dahinter liegenden Strukturen haben häufig auch eine politische Dimension und sorgen dafür, dass bestimmte Handlungsoptionen wahrscheinlicher werden und uns näher liegen als andere. Und dadurch, dass so viele Menschen in diese Richtung gehen, werden sie auch normativer. So führt ein schlechtes Angebot an Fahrradwegen oder beim ÖPNV in einer Nachbarschaft oder Region dazu, dass sich mehr Menschen ein Auto zulegen und die Gewohnheit entwickeln, selbst kurze Distanzen mit dem Auto zu fahren. Autofahren wird damit zur sozialen Norm in dieser Gegend. Das wiederum schafft sogenannte Pfadabhängigkeiten: Wenn dann über Flächen entschieden wird, gewinnt vielleicht der Vorschlag für mehr Parkplätze über den Vorschlag nach einem durchgängigen Fahrradweg. Dann heißt es schnell: „Hier fährt doch sowieso niemand mit dem Rad, wozu dann Fahrradwege bauen?“ Umgekehrt wird aber ein Schuh daraus.

Also braucht es eine Kombination aus eigener Willensstärke und politischer Weichenstellung?
Genau. Wir haben ja einige große gesellschaftlich Ziele, zum Beispiel Klimaschutz. Man kann nicht darauf hoffen, dass sich das alles ergibt, wenn Individuen merken: „Hier haben wir ein Problem, hier müssen wir uns umstellen.“ Sondern man muss das unterstützen durch geeignete Strukturen. Da ist dann die Politik gefragt. Die Selbstkontrollforschung ist also eng verbunden mit einer politischen Ebene, und das haben wir vorher vielleicht zu wenig gesehen.

Stadtplanung ist ein großer Faktor, und Städte können hinhören: Was wollen denn die Bürger?

An welche politischen Ebenen appellieren Sie dabei?
Es gibt verschiedene Handlungsebenen: Zum einen ist da die große, nationale, aber auch internationale Bühne der Politik, wo wir Eckpfeiler setzen können. Aber auch eine Ebene darunter werden wichtige Weichen gestellt. Stadtplanung ist ein großer Faktor, und Städte können hinhören: Was wollen denn die Bürger? Wo haben wir einen unmittelbaren Mehrwert, wenn wir relativ schnell bestimmte Bereiche umgestalten und zum Beispiel bestimmte Einkaufsstraßen zu Fußgängerzonen machen? Aber auch im beruflichen Kontext haben wir viele Gestaltungsmöglichkeiten: Ich kann als Führungsperson eines Unternehmens Angebote machen, die es den Mitarbeitenden erleichtern, Bewegungsentscheidungen zu treffen. Ich kann betriebliches Gesundheitsmanagement anstoßen, ich kann Bewegungskurse anbieten, ich kann ÖPNV-Tickets unterstützen.

Arbeitgeber können ihre Mitarbeitenden bei dem Vorhaben unterstützen, mit dem Rad zur Arbeit zu kommen. Zum Beispiel durch das Aufstellen von ausreichend Fahrradständern oder indem sie die Möglichkeit bieten, sich vor der Arbeit zu duschen und umzuziehen. © Roberto Schirdewahn

Nicht zuletzt können sich ja auch Bürgerinnen und Bürger einbringen und Veränderungen anstoßen.
Absolut! Es ist sehr wichtig, diesen Bogen zu sehen: dass mein eigenes Verhalten gefördert werden kann, oder auch verhindert werden kann, durch die Art von Strukturen, mit denen ich vor Ort konfrontiert bin. Dieser Blick fehlt vielen Menschen. Wir haben gelernt, vieles zu internalisieren, das nicht klappt, nach dem Motto: „Ich bin halt ein Bewegungsmuffel“, „Ich bin halt undiszipliniert“. Man meint, vor allem an sich arbeiten zu müssen. Und das geht oft mit Schuldgefühlen einher, wenn es dann wieder scheitert. Sich gemeinsam dafür einzusetzen, dass hinderliche Strukturen erkannt und verändert werden, ist vielleicht der bessere Umgang mit dem Problem. Zumindest eröffnen sich ganz neue Perspektiven.

Haben Sie bestimmte Forschungsvorhaben diesbezüglich?
Mich interessiert momentan besonders, wie Menschen ein Gespür für die Rolle von Strukturen entwickeln. Und ganz besonders treibt mich und mein Team die Frage um, von welchen weiteren Faktoren es dann abhängt, ob Menschen sagen: „In diesem Bereich haben wir ein Problem, das wir als Einzelpersonen nicht lösen können, deshalb möchte ich hier mehr politische Maßnahmen sehen.“ Und das könnten wiederum wichtige Informationen für Entscheidungsträger sein und könnte eine ambitioniertere Politik bei der Bekämpfung dieser Probleme ermöglichen.

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Veröffentlicht

Donnerstag
25. April 2024
09:34 Uhr

Dieser Artikel ist am 3. Juni 2024 in Rubin 1/2024 erschienen. Die gesamte Ausgabe können Sie hier als PDF kostenlos downloaden. Weitere Rubin-Artikel sind hier zu finden.

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