Serie Standpunkt
Prof. Dr. Georg Juckel © RUB, Nelle

Psychiatrie/Psychologie Einsamkeit geht uns alle an

Psychiater Georg Juckel fordert, Einsamkeit als gesamtgesellschaftliches Phänomen zu begreifen – und skizziert eine Idee, wie man das Kollektiv motivieren könnte, sich mehr um die Mitmenschen zu kümmern.

Chronische Einsamkeit ist eine lebensbedrohliche Gesundheitsgefahr. Wir wissen, dass sie Sekundärleiden wie Depressionen oder Bluthochdruck bewirken und die Lebenserwartung senken kann. Sind allein die Betroffenen in der Pflicht, etwas gegen ihre Einsamkeit zu tun? Wer das denkt, macht es sich zu leicht.

Menschen leben in Gruppen, von denen sie manche Individuen – zum Beispiel Kranke oder Alte – ausschließen. Die Corona-Pandemie hat die soziale Distanz noch verstärkt. Die daraus resultierende Einsamkeit lässt sich nicht allein psychotherapeutisch reparieren. Wir sollten uns als Kollektiv Gedanken machen, was wir dagegen tun können. Die Lösung kann nicht sein, dass wir viele Milliarden Euro dafür ausgeben, Sozialarbeiterinnen, Psychologen oder Ärztinnen zu den Einsamen zu schicken.

Viele sind dankbar, wenn sie fünf Minuten mit jemandem sprechen konnten.

Jede und jeder kann bei sich selbst anfangen. Was hält uns davon ab, mit dem Nachbarn, den wir im Hof treffen, einfach mal ein Pläuschchen zu halten? Viele sind dankbar, wenn sie fünf Minuten mit jemandem sprechen konnten.

Aber nur auf die Eigenverantwortung zu setzen, reicht nicht aus. In unserer heutigen Zeit ist alles schneller geworden. Ständig sind wir in Eile und starren auf unser Smartphone. Wir achten nicht mehr auf unsere Mitmenschen. Wir müssen einen Konsens finden, wie wir eine kollektive Haltung und Praxis der Zuwendung und Wertschätzung hinbekommen, die nicht künstlich aufgesetzt ist oder mit dem moralischen Zeigefinger auf andere zeigt. Die Gesellschaft muss sich überlegen, wie sie diejenigen unterstützt, die sich um einsame Menschen kümmern.

Menschen, die regelmäßig für die Alleinlebenden und Bedürftigen sorgen, könnten Steuererleichterungen bekommen.

Menschen, die regelmäßig für die Alleinlebenden und Bedürftigen sorgen, könnten zum Beispiel Steuererleichterungen bekommen. Initiativen im Mietshaus, in der Nachbarschaft, im Viertel oder auch in größeren Kontexten könnten das ersetzen, was früher durch ein erfolgreiches Vereinsleben aufgefangen wurde, das immer mehr in den Hintergrund tritt.

Ich bin davon überzeugt, dass alle von einem solchen Dienst profitieren würden – nicht nur finanziell. Denn was gibt es für soziale Wesen Schöneres, als die Dankbarkeit von anderen zu erfahren, denen man geholfen hat? Und sicherlich würde man in den Gesprächen andere wertvolle Perspektiven kennenlernen.

Mitmenschlichkeit gegen Steuersenkung – das klingt im ersten Moment vielleicht paradox. Aber manchmal müssen wir uns selbst halt ein wenig nachhelfen.

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Veröffentlicht

Donnerstag
20. Juni 2024
08:32 Uhr

Von

Georg Juckel
LWL-Universitätsklinikum für Psychiatrie
Psychotherapie und Präventivmedizin

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