Serie Standpunkt

Prof. Dr. Isolde Karle ist Prorektorin für Diversität, Inklusion und Talententwicklung an der Ruhr-Universität.

© RUB, Marquard

Bürokratieabbau Weniger Schutz, Sicherheit und Gerechtigkeit?

Eine Stellungnahme zu einem Papier der Leopoldina.

Im Februar 2025 hat die Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina ein Diskussionspapier unter dem Titel „Mehr Freiheit – weniger Regulierung. Vorschläge für die Entbürokratisierung des Wissenschaftssystems“ veröffentlicht. Die Leopoldina liegt damit im Trend – allerorten wird über Bürokratisierung geklagt und gefordert, dieselbe abzubauen. 

Degradiert zum Nebenzweck

Unter der Überschrift „Auf Kernaufgaben fokussieren“ wird dabei das Engagement der Universitäten für Gleichstellung, Inklusion und Diversität kritisiert, weil dieses nicht zu den Kernaufgaben der Universität gehöre. Diese seien vielmehr Nebenzwecke, die zu neuen Regularien, Berichtspflichten und Kontrollstrukturen – also zu mehr Bürokratie – führten und Forschung und Lehre belasten statt zu ihnen konstruktiv beizutragen. Die Leopoldina geht sogar so weit vorzuschlagen, keine Beauftragten (im Übrigen nicht nur zur Gleichstellung/Diversität, sondern auch zur Arbeitssicherheit und zum Datenschutz!) mehr einzusetzen und Gleichstellung beziehungsweise Diversität auch bei der Projektförderung nicht mehr zu berücksichtigen. Die genannten herabgestuften Nebenzwecke sollen demnach nicht mehr über Ämter sichergestellt werden, sondern sind auf freiwilliger Basis von den Hochschulleitungen zu verfolgen. Das erscheint nicht nur sehr realitätsfern, sondern führt vor allem und ganz direkt zu weniger Schutz, weniger Sicherheit und weniger Gerechtigkeit.

Brachliegende Ressourcen

Es ist offensichtlich, dass sich die Autoren und Autorinnen mit ihren Forderungen von lästig empfundenen Pflichten entledigen wollen. Besonders realitätsfern ist dabei, dass die Kernaufgaben in Forschung und Lehre und die Bemühungen um Chancengerechtigkeit in Gegensatz zueinander gebracht werden. Das ist eine Verkennung der Tatsachen und deckt sich in keiner Weise mit wissenschaftlichen Befunden. Gleichstellung und Diversität haben zu neuen Erkenntnissen, zu neuen Forschungsschwerpunkten und zu einer signifikanten Verbesserung der Wissenschaft beigetragen. 

Dies erstens ganz grundsätzlich dadurch, dass Begabungsressourcen, die bislang brachlagen und unentdeckt blieben, durch die Gleichstellungsprogramme erst zur Entfaltung und Blüte gebracht wurden. Dies führte nicht nur dazu, dass viel mehr und diversere Menschen an Wissenschaft teilnehmen und ihre Ideen einbringen können, sondern auch zu bahnbrechende Entdeckungen, die es ohne ihre Förderung nicht gäbe. 

Zweitens verbesserte sich Wissenschaft über eine Vervielfältigung der Perspektiven, die mit der Diversität des Personals einhergeht. Insbesondere für die hermeneutisch arbeitenden geistes- und sozialwissenschaftlichen Disziplinen ist dies elementar. Heterogene soziale Erfahrungen sind vielfach die Voraussetzung für neue Fragestellungen und die Entwicklung eines neuen mindset, das traditionelle Normen und Normalitätsvorstellungen hinterfragt. Drittens geht es schließlich um harte Fakten, ich nenne als Beispiel die Medizin, die erst durch den Fokus auf Gender und Diversität feststellte, dass es nicht genügt, nur männliche weiße Probanden (oder Versuchstiere) als Prototyp zu verwenden, weil Therapien bei Frauen und nicht-weißen Menschen oft anders wirken und dementsprechend auch Diagnosen anders gestellt werden müssen etc. Die Gender- und Diversitätsmedizin hat auf diese Weise zu einem Paradigmenwechsel in der Medizin geführt und schon vielen Menschen das Leben gerettet.

Vorbereitet auf ein superdiverses Umfeld

Nicht nur für die Forschung, auch in der Lehre ist Diversität und Gleichstellung essentiell. Absolvent*innen werden in einer Gesellschaft, die selbst superdivers ist (Aladin El-Mafaalani), berufstätig und müssen dafür vorbereitet sein. Das gilt in Sonderheit für alle künftigen Lehrer*innen, aber auch in vielen anderen Bereichen wie der Medizin, der Psychologie etc. Es ist deshalb elementar, schon an der Universität in ein diverses soziales Umfeld eingebettet zu sein, eigene Vorurteile in Frage zu stellen und sich eine Diversitätskompetenz anzueignen. 

Das alles ist nicht ohne Beauftragung und ohne Ämter und Programme zu erreichen, die genau darauf abzielen. Die Geschichte der Universität zeigt hinlänglich, dass sich ohne Programme, ohne Ressourcen, ohne kompetente Beauftragte nahezu nichts ändert und mit ihnen sehr viel. Bis heute ist die Dynamik von Unconscious Bias in Berufungskommissionen zu beobachten – damit ist beispielsweise die Neigung gemeint, Personen zu bevorzugen, die einem selbst ähnlich sind und das sind in einem männerdominierten universitären Umfeld Männer und Menschen mit bürgerlichem Habitus – und damit viel zu oft nicht gerade die klügsten und kreativsten Köpfe.

Bürokratie sorgt für Fairness und Transparenz, sie verhindert Bestechung und die manipulative Dominanz der Stärkeren. 

Gleichstellung, Inklusion und Diversität sind essentiell für die Universität. Das gilt auch und nicht zuletzt mit Blick auf die Demokratiebildung, auf die die Universität durch das Hochschulrahmengesetz und das Grundgesetz verpflichtet ist. Die Herstellung von Chancengerechtigkeit ist Fundament einer Demokratie und gerade in Zeiten, in denen diese gefährdet erscheint, elementar.

Das wirft nun nochmals ein neues Licht auf die Bürokratiedebatte insgesamt. Bürokratie wird heute ausschließlich in einem einseitig negativen Kontext definiert. Dabei werden die Leistungen von Bürokratie oft ausgeblendet, in jedem Fall unterschätzt. Den Bürokratieverächtern ist mit Max Weber entgegenzuhalten, dass Bürokratie der traditionalen und charismatischen Herrschaft vorzuziehen ist, weil nur sie in der Lage ist, Willkür und die Bevorzugung einzelner zu verhindern. Sie verpflichtet alle, sich an die gleichen und rational begründeten Regeln zu halten. Sie sorgt für Fairness und Transparenz, sie verhindert Bestechung und die manipulative Dominanz der Stärkeren. 

Verteufelung der Bürokratie ist gefährlich

Das heißt: Ein demokratischer Rechtsstaat ist nur möglich als Bürokratiestaat. Je mehr Rechte Individuen gesetzlich zugesichert werden, je umfänglicher der Schutz vor Gefahren, desto ausgeprägter ist die Bürokratie. Selbstverständlich kann man bürokratische Überregulierungen trotzdem kritisieren und kann es angezeigt sein, Verwaltungen zu verschlanken. Aber im Allgemeinen führt der Abbau von Bürokratie zum Abbau von Schutz, Sicherheit und Gerechtigkeit. Außerdem sollte man sich im Klaren sein, dass jede Handlung in einem komplexen System positive und negative, erwartete und unerwartete Folgen hat, wie Niklas Luhmann betont. Zufriedenheit in Sachen Bürokratie ist deshalb nicht zu erreichen. Die meisten bürokratischen Regelungen und Gesetze haben einen Sinn. Ob die Nachteile die Vorteile überwiegen, ist oft schwer zu beurteilen und hängt von politischen Wertungen ab. 

Die pauschale Verteufelung der Bürokratie ist jedenfalls höchst gefährlich, wie man an autokratischen Politikern, die sie und mit ihr die Demokratie zerstören wollen, derzeit sieht. Die Bürokratie fördert den Rechtsstaat und gewährleistet Chancengerechtigkeit und den sozialen Frieden. Sie sollte deshalb umsichtig kritisiert und modernisiert aber nicht abgewertet oder gar dämonisiert werden.

Veröffentlicht

Montag
14. April 2025
13:48 Uhr

Von

Prof. Dr. Isolde Karle

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