Fellowship Katharina van Elten wird in Washington forschen
Die Politikwissenschaftlerin beschäftigt sich mit dem Thema Abtreibung als Beispiel für die sogenannte Rechtsmobilisierung.
Dr. Katharina van Elten aus der Sektion Politikwissenschaft/Politisches System Deutschlands hat sich erfolgreich um ein achtwöchiges Fellowship an der Johns Hopkins Universität in Washington beworben. Noch ist aufgrund der Corona-Pandemie offen, wann sie die Reise antreten kann. Das Thema, mit dem Katharina van Elten sich beschäftigen wird, ist gleichwohl aktueller denn je: Abtreibung und vor allem die Diskussion darüber, die sich zunehmend von der politischen zur juristischen Ebene bewegt.
Frau van Elten, zunächst herzlichen Glückwunsch zum Fellowship. Nur zwei davon vergibt das Land NRW im Jahr 2020. Womit haben Sie die Jury überzeugt?
Das Thema Rechtsmobilisierung als Weg der Interessenvermittlung ist aktuell. Man weiß, dass Gerichte in den USA eine wichtige Rolle spielen in der Politikgestaltung, aber auch in Deutschland und Europa wenden sich immer mehr Menschen und Interessenorganisationen an Gerichte, um ihre Interessen durchzusetzen. Die Relevanz des Themas ist auch in NRW sichtbar, zum Beispiel bei der juristischen Auseinandersetzung um den Hambacher Forst oder islamischen Religionsunterricht.
Über das Fellowship-Programm
Laut den Statuten des Programms sollten Sie Ihren Aufenthalt in den USA bis Ende Dezember 2020 absolvieren. Haben Sie mittlerweile eine Nachricht bekommen, dass diese Frist verlängert wird? Und wenn ja, bis wann?
Die Staatskanzlei NRW hat erfreulicherweise eine Verlängerung der Mittelverausgabung bis Juni 2021 bewilligt.
Wie sehr ärgert es Sie, dass Sie jetzt nicht in Washington sein können? Sowohl der Präsidentschaftswahlkampf als auch die geplante Neubesetzung am Supreme Court mit einer konservativen Richterin befinden sich in heißen Phasen.
Ja, das ist natürlich sehr, sehr schade. Ich hatte tatsächlich geplant, im Oktober und November in den USA zu sein, um den Wahlkampf und die Wahlnacht mitzuerleben. Auf meine Forschung hat es keine großen Auswirkungen, aber es wäre natürlich toll gewesen, das vor Ort mitzubekommen.
Nach den falschen Prognosen 2016 sind natürlich alle vorsichtig.
Andererseits lässt sich beides auch von Deutschland aus verfolgen. Haben Sie Tipps oder Wünsche zum Ausgang dieser Angelegenheiten?
Nach den falschen Prognosen 2016 sind natürlich alle vorsichtig, was Vorhersagen zum diesjährigen Wahlausgang angeht. Aber ich bin hoffnungsvoll, dass Joe Biden gewinnen wird und sich die Republikaner nicht dazu herablassen, das Wahlergebnis mit Blick auf die Briefwahl anzufechten oder nicht anzuerkennen. Was die Bestätigung von Amy Coney Barrett für den Supreme Court angeht, hat sich die Sache bereits erledigt: Sie wurde mit der republikanischen Senatsmehrheit durchgewunken.
Sie befassen sich mit Thema Rechtsmobilisierung als Lobbyingstrategie. Bevor wir gleich dazu kommen, noch kurz zu dem Feld, das Sie als Beispiel für diese Strategie gewählt haben: Abtreibungen. Können Sie kurz die juristische und politische Lage in den USA schildern? Wie unterscheidet diese sich von Deutschland?
Die Länder unterscheiden sich schon recht stark, was die Haltung zu Abtreibungen angeht. In Deutschland ist das Thema unlängst wegen der Diskussion um den Paragrafen 219a, dem sogenannten Werbeverbot von Abtreibungen, in den Medien gewesen, aber die rechtlichen Regelungen zu Schwangerschaftsabbrüchen sind eigentlich unumstritten und taugen zumindest nicht als Wahlkampfthema. Es gibt allerdings auch hier radikale „Lebensrecht“-Organisationen.
Grundsätzlich sind Abtreibungen in Deutschland bis zum Ende des dritten Monats straffrei. In den USA gibt es bei dem Thema eine Hyperpolarisierung zwischen „Pro-Life-“ und „Pro-Choice“-Fraktionen. Durch das Urteil Roe v. Wade 1972 wurden Abtreibungen in den USA im ersten Schwangerschaftstrimester grundsätzlich erlaubt. Das Urteil ist aber von jeher sehr umstritten, und konservative Staaten haben immer wieder Maßnahmen unternommen, den Zugang zu Abtreibungen enorm einzuschränken. Roe v. Wade ist auch ein Grund, warum für die amerikanische Rechte die Neubesetzung des Supreme Court so wichtig war.
Wenn Roe gekippt wird, werden in manchen Bundesstaaten Abtreibungen wieder kriminalisiert.
Menschen in den USA und überall auf der Welt, die Abtreibungen befürworten, befürchten tatsächlich, dass die Neubesetzung am Supreme Court mit einer bekennenden Abtreibungsgegnerin dazu führt, dass Abreibungen möglicherweise in den gesamten USA verboten werden. Teilen Sie diese Befürchtung?
Die Befürchtung ist nicht unbegründet. Viele Bundesstaaten habe ihre Gesetzgebung nie geändert. Wenn Roe gekippt wird, werden in manchen Bundesstaaten Abtreibungen wieder kriminalisiert, während einige andere Bundesstaaten liberale Regelungen erlassen haben. Trotzdem würden wahrscheinlich sehr viele Frauen den Zugang zur legalen Abtreibung verlieren – selbst in Fällen von Vergewaltigung oder Inzest. Allerdings ist die Besetzung des Supreme Courts ja noch keine abgeschlossene Sache.
Derzeit wird heiß diskutiert, ob Biden den Supreme Court erweitern würde. Es steht nirgends festgeschrieben, wie viele Richterinnen und Richter der Supreme Court haben soll oder muss. Abgesehen von der juristischen Ausgangslage ist das Problem aber eigentlich ein anderes. Der Diskurs um Abtreibungen ist von überkommenen Geschlechterrollen geprägt und müsste stark entschärft werden, um auch eine gesellschaftliche Annäherung zu erreichen.
In jedem Fall wäre der Versuch, ein Verbot von Abtreibungen juristisch und nicht etwa politisch durchzusetzen, ein Paradebeispiel für Ihr Forschungsfeld Rechtsmobilisierung als Lobbyingstrategie. Können Sie diesen Ansatz kurz erklären?
Wir schauen uns an, wer, wann und warum Rechtsstrategien zur Interessendurchsetzung nutzt. Das Feld ist bisher relativ wenig beforscht worden, weil mit Lobbying meistens die klassischen Wege über die Ministerialverwaltung, den Bundestag oder Medien verbunden werden. Rechtsmobilisierung und strategische Prozessführung werden aber immer wichtiger. Das hat mit verschiedenen Dynamiken zu tun. Zum einen wurden Rechtsstrategien schon immer als vorteilhaft für Interessengruppen gesehen, für die es aussichtlos war, ihr Thema auf die Agenda zu setzten oder eine politische Mehrheit zu gewinnen. Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Dritten Geschlecht ist hierfür ein gutes Beispiel.
Auf der anderen Seite tut sich auch viel auf dem Rechtsmarkt. Kommerzielle digitale Anbieter, wie „wenigermiete.de“, „flightright“ oder im Dieselskandal „myright“, machen es für viele einfacher, ihre Rechte einzufordern. Im Feld des Verbraucherschutzes wurde nicht nur die Musterfeststellungsklage in Deutschland eingeführt, sondern auch eine europäische Sammelklage. Wenn sich heute ein Konzern einen Skandal wie Dieselgate leisten würde, könnten die geschädigten Kunden europaweit auf Schadensersatz klagen.
Die Diskussion über neue Klagemöglichkeiten hat auch das Rechtsbewusstsein erhöht. Das sieht man jetzt schon in der Coronakrise: Die Exekutive entscheidet, und der einzige und oft artikulierte Dissens geht über die Gerichte. Darüber hinaus nutzen viele Interessenorganisationen schon jetzt strategische Prozessführung, um Aufmerksamkeit für ihre Anliegen zu gewinnen. Diese Gerichtsverfahren haben oft nicht mal das Ziel, gewonnen zu werden, sondern Öffentlichkeit zu schaffen und Handlungsdruck aufzubauen. Diese Phänomene sind lange eher als genuin amerikanisch gesehen worden, aber inzwischen wächst das Interesse auch in der deutschen Forschung.
Es gibt jetzt schon Bemühungen von Anwaltskanzleien, Sammelklagen gegen die Bundesregierung auf Schadensersatz wegen der Corona-Maßnahmen zu sammeln.
Gibt es weitere Beispiele für diese Strategie?
Da gibt es zahlreiche. Beim Thema Abtreibung ist der Prozess um die Gynäkologin Christina Hänel durch die Presse gegangen, weil sie angeblich auf ihrer Homepage Werbung für Abtreibungen gemacht hat. Dahinter steckten radikale „Lebensrechtler“, die systematisch Ärztinnen und Ärzte angezeigt haben, die Abtreibungen vornehmen. Es gibt aber auch ganz andere Beispiele. Neben dem Verfahren gegen VW hat auch schon ein Münchener Mietverein erfolgreich eine Musterfeststellungsklage geführt. Es gibt jetzt schon Bemühungen von Anwaltskanzleien, Sammelklagen gegen die Bundesregierung auf Schadensersatz wegen der Corona-Maßnahmen zu sammeln.
Welche Gefahren sehen Sie in dieser Strategie?
Grundsätzlich ist Rechtsmobilisierung ein gutes Instrument für schwache Interessen, die sich in den anderen Arenen der Interessenvermittlung nicht durchsetzen können. Gerade in der Gleichstellungspolitik hat sich durch Klagen sehr viel getan. Es gibt aber eine ganze Reihe von Nachteilen. Klagen sind teuer, dauern lange und man weiß nicht, was am Ende dabei rumkommt. Ein weiteres großes Problem ist, dass es schwer ist, den Diskurs wieder in einen politischen Aushandlungsprozess zurückzuholen, wenn er einmal im Rechtssystem gelandet ist.
Die Polarisierung beim Abtreibungsthema ist auch darauf zurückzuführen, dass ein kontroverses Thema durch ein Gerichtsurteil entschieden wurde und eben nicht durch einen gesellschaftlichen Aushandlungsprozess. Das heißt dann „win in court, loose in society“: Man gewinnt zwar vor Gericht, aber das Urteil wird gesellschaftlich nicht akzeptiert, führt zu einer Gegenbewegung und es gibt nur noch pro oder contra und nichts mehr dazwischen.
Es zeigt sich, dass das Rechtsbewusstsein enorm zugenommen hat.
Lässt sich diese Entwicklung Ihrer Meinung nach aufhalten? Wer wäre hier gefordert?
Meiner Ansicht nach wird sich die Entwicklung zu verstärkter Rechtsmobilisierung durchsetzen. Es zeigt sich, dass das Rechtsbewusstsein enorm zugenommen hat und die neuen Kollektivklagerechte auch genutzt werden. In beiden Fällen wurde jedoch festgelegt, dass nur qualifizierte Interessengruppen und nicht Anwaltskanzleien die Klage führen dürfen. Damit wird versucht, den Einfluss von profitorientierten Akteuren und die viel zitierte Klageindustrie einzuhegen.
Trotzdem ist davon auszugehen, dass spezialisierte Anwaltskanzleien an Einfluss gewinnen und Interessengruppen vermehrt Gebrauch von Rechtsmitteln machen werden.