Interview „Oh nein, da kommt der Palliativmediziner!“
Warum Palliativmedizin weit mehr ist als Sterbebegleitung, erklärt Dr. Nicole Selbach, Fachärztin für Innere Medizin und Leiterin der Sektion Palliativmedizin am Universitätsklinikum Knappschaftskrankenhaus Bochum.
Frau Dr. Selbach, was ist das Ziel der Palliativmedizin?
Viele denken, Palliativmedizin ist Sterbemedizin. Natürlich machen wir auch Sterbebegleitung. Dann sind die Betroffenen häufig nur wenige Tage bei uns. Das Ziel ist aber ein langfristiger Effekt. Insbesondere bei metastasierter Krebserkrankung ist es uns wichtig, dass wir die Patientinnen und Patienten frühzeitig fragen können, ob sie palliative Bedarfe haben. Sei es Linderung von körperlichen Symptomen wie Schmerzen, Spirituelles, Soziales, Psychoonkologisches oder eine Ernährungsberatung. Solche Menschen begleiten wir über Monate und möglicherweise auch Jahre.
Welche Patientinnen und Patienten kommen zu Ihnen?
Häufig welche, die noch eine Chemotherapie erhalten haben und die wir mit ihren Nebenwirkungen noch nicht nach Hause schicken können. Im Sinne einer „early integration“ sorgen wir dann dafür, dass jeder mit einem guten Konzept weitertherapiert werden kann; entweder onkologisch, wenn es demjenigen noch etwas bringt und die Nebenwirkungen nicht überwiegen, oder palliativ.
Wichtig ist, mit der betroffenen Person zu sprechen, um herauszufinden, wie es ihr geht.
Wichtig ist, mit der betroffenen Person zu sprechen, um herauszufinden, wie es ihr geht. Ihr Raum zu geben, um vielleicht auch sagen zu können, dass ihr die Chemotherapie gar nicht gut tut und sie keine mehr möchte. Das Schöne an unserem multiprofessionellen Team ist, dass die Kolleginnen und Kollegen durch ihre unterschiedlichen Ausbildungen und Arbeitsweisen auch verschiedene Blickwinkel auf den Menschen haben.
Gerade in der letzten Lebensphase ist jeder Mensch sehr individuell. Da muss man genau gucken, wen man wie am besten begleiten kann. Kleine Dinge können sehr viel für die Betroffenen bewirken. Zum Beispiel eine gute Schmerztherapie, die leider immer noch nicht überall selbstverständlich ist.
Sind auch andere Krankheitsbilder dabei?
Wir behandeln auch Menschen mit Herzinsuffizienz, neurologischen Erkrankungen wie Morbus Parkinson, fortgeschrittener Multipler Sklerose oder Amyotropher Lateralsklerose (ALS). Viele Patientinnen und Patienten kommen auch nach einem ausgeprägten Schlaganfall zu uns, weil sie ihr gewohntes Leben so nicht mehr weiterleben können. Da muss man dann überlegen, wie man mit der Situation umgehen kann. Das gilt insbesondere auch für Betroffene mit stark eingeschränkter Schluckfähigkeit. Wir versuchen dann, für jeden einzelnen Menschen den besten Weg zu finden.
Was ist notwendig, damit Palliativpatientinnen und -patienten nach Hause können?
Sie brauchen ein funktionierendes Netzwerk aus Menschen, die sie unterstützen. Familie, Freunde, auch das Palliativnetz in Bochum und die spezialisierte ambulante Palliativversorgung in anderen großen Städten, wie beispielsweise in Essen, hilft.
Wichtig ist auch, mit den Patientinnen und Patienten vorab zu besprechen, was an Nebenwirkungen auftreten kann, und ihnen zum Beispiel gleich ein Medikament gegen Übelkeit oder Schmerzen mitzugeben. Damit derjenige das Gefühl hat, autonom handeln und sich selbst helfen zu können.
Was bewirkt eine Palliativtherapie?
Bereits 2010 hat man erstmals festgestellt, dass Krebspatientinnen und -patienten durch eine Palliativtherapie nicht nur in ihrer Lebensqualität profitieren, sondern auch in ihrer Lebenszeit. Das kann man sich ja auch gut vorstellen. Je weniger Stress man durch Schmerzen, soziale Probleme oder die Psyche hat, desto länger kann möglicherweise das Leben sein – und umso besser!
Wäre es dann manchmal besser, auf eine weitere nebenwirkungsreiche Therapie zu verzichten und eher auf die Palliativmedizin zu setzen?
Am besten wäre, man würde das kooperativ gestalten. Viele meiner onkologischen Kolleginnen und Kollegen haben auch die Fortbildung in Palliativmedizin. In der Gesellschaft ist die Sichtweise aber häufig folgende: „Wenn ich noch eine Chemotherapie mache, tue ich noch etwas. Wenn ich Palliativmedizin mache, tue ich nichts mehr“.
Es ist unsere Aufgabe, dass wir diesen Blickwinkel auch in der Gesellschaft ändern. Als Palliativmedizinerin gucke ich nicht nur auf die Erkrankung, sondern auf den Menschen. Auf das, was ihn beschäftigt und was seine Lebensqualität ausmacht. Ich glaube, dass man da Vorbehalte abbauen muss. Viele Patientinnen und Patienten denken: „Sie schicken mich in die Palliativstation. Ist es jetzt schon vorbei?“ Das sollte aber gar nicht der Gedanke dahinter sein. Die Betroffenen müssen wissen, dass sie durch die Palliativmedizin Unterstützung erhalten, auch während einer Therapie.
Wir müssen alle sterben, wir können versuchen, die Natur auszutricksen, aber sterben müssen wir trotzdem.
Das ist beispielsweise auch wichtig für Menschen mit Leberzirrhose, die zwar kurativ therapiert werden, von denen viele aber nicht mehr bis zur Lebertransplantation kommen. Da stellt sich die Frage, wann darf und sollte man begleitend palliativ therapieren? Deshalb finde ich es sehr wichtig, dass wir kooperativ mit den Ärztinnen und Ärzten arbeiten, miteinander das Beste für die Betroffenen rausholen und niemand denkt: „Oh nein, da kommt der Palliativmediziner!“
Was liegt Ihnen beim Thema Palliativmedizin besonders am Herzen?
Zu Beginn der Corona-Pandemie dachte ich mir: „Und jetzt reden wir über das Sterben!“ Wir müssen alle sterben, wir können versuchen, die Natur auszutricksen, aber sterben müssen wir trotzdem. Und wir können zumindest ein bisschen mitbestimmen: über Patientenverfügungen und Vorsorgevollmachten.
Aber es wird nicht darüber geredet. Ich habe das Gefühl, das ist so eine Entwicklung in unserer Gesellschaft. Nach dem Motto: „Wenn wir nicht darüber reden, dann kommt der Tod nicht“. Aber das stimmt ja nicht! Der kommt trotzdem. Aber er kommt halt manchmal unvorhergesehener, ungeplanter und mit weniger Möglichkeiten, selbst zu sagen, wie man es haben möchte.
Gerade Corona ist der medikalisierte Tod per se. Der Mensch ist im Krankenhaus isoliert, er wird von verhüllten Menschen versorgt, darf nicht berührt werden, da ist eine Plexiglasscheibe dazwischen. Die Familie darf nicht kommen. Wollen wir das?
Was macht das mit den Angehörigen?
Wir hatten jetzt zum Glück das erste Mal wieder eine Präsenzveranstaltung des Palliativnetzes, bei der auch der ambulante Hospizdienst mit dabei war. Sie haben gesagt, dass sie wahrscheinlich eine Trauergruppe machen werden – nur für die Angehörigen von Coronatoten. Denn die sind so traumatisiert dadurch, dass sie ihre Angehörigen verloren haben und nicht dabei sein konnten, sich nicht verabschieden konnten, keine Beerdigung machen konnten. Die ganze Struktur, die einem in einer solchen Situation sonst Halt gibt, ist in der Pandemie auseinandergebrochen.
Der Hospizdienst hat viele Anfragen von Menschen, die noch die Nachwirkungen davon mit sich herumtragen. Diese Menschen können den Tod ihrer Angehörigen gar nicht verarbeiten. Ihnen dabei zu helfen, ist auch unsere Aufgabe als Palliativmediziner. Wir begleiten nicht nur den Patienten, sondern die ganze Familie. Auch über den Tod hinaus versuchen wir, dafür zu sorgen, dass die Angehörigen möglichst ohne Trauma weiterleben können.
Was ist heute schon gut in der Palliativmedizin?
Es hat sich schon ganz viel verändert. Als meine ehemalige Chefin, Frau Kloke, angefangen hat, gab es noch nicht viel. Die erste Palliativstation Deutschlands entstand 1983 in Köln. Inzwischen haben wir viel mehr Hospize und Palliativstationen, in denen Patientinnen und Patienten untergebracht werden können. Zudem gibt es Palliativ-Konsiliardienste in den Krankenhäusern. Das Bewusstsein für das Thema wird mehr geschärft. In den vergangenen Jahren ist auch eine spezialisierte ambulanten Palliativversorgung entstanden. Deren Teams betreuen die Betroffenen zu Hause. So können sie an dem Ort sterben, den sie sich wünschen und bekommen auch die notwendige Unterstützung. Das ist eine gute Entwicklung.
Wo besteht noch Verbesserungsbedarf?
Die Palliativstrukturen in den Kliniken müssen weiter ausgebaut werden, sodass jede Patientin und jeder Patient die Möglichkeit hat, Kontakt aufzunehmen. Das gilt ganz besonders für die Kliniken mit onkologischer Versorgung, aber auch für die anderen Disziplinen, in denen die Betroffenen eine schwere Symptomlast haben.
Wenn wirklich etwas bewegt werden soll, dann brauchen Patientinnen und Patienten eine Palliativstation, in der man die Ruhe hat, bestimmte Themen zu besprechen, Abstand zu nehmen und zu überdenken, was man für seine letzte Lebensphase überhaupt möchte.
Palliativmedizin ist noch ein relativ junges Fach, da gibt es auch von Seiten der Forschung noch viel, was man machen kann. Wichtig ist zudem, dass sich hinsichtlich der Abrechnung für Palliativpatienten etwas tut. Sie bringen meist so viele Dinge mit, dass sie sich nicht in bestimmte Abrechnungsschlüssel pressen lassen. Um die für die Patienten so wichtigen Gespräche zu führen, braucht man einfach viel Zeit. Da Medizin aber immer mehr rentabel sein muss, ist das schwierig. In der Palliativmedizin brauchen wir viel Personal und wenig Technologie. Wir müssen mit dem Betroffenen reden, erstmal gucken, wo er steht, was er mitbringt und wo er hinmöchte.