Neurologin Prof. Dr. Dagmar Timmann von der Universität Duisburg-Essen (links) und Neurobiologin Prof. Dr. Melanie Mark von der Ruhr-Universität Bochum arbeiten bei der Erforschung des Kleinhirns eng zusammen. © Roberto Schirdewahn

Neurowissenschaften Wenn das Kleinhirn aktiv wird

Eine neue Studie zeigt, dass das Kleinhirn an der Verarbeitung von Emotionen beteiligt ist. Das ist wichtig zu wissen bei der Betreuung von Menschen mit Ataxien.

Lange Zeit wurde ignoriert, dass das Kleinhirn auch eine wichtige Rolle bei der Regulierung unserer Emotionen spielt – etwa beim Verarbeiten von Furcht. Prof. Dr. Melanie Mark von der Ruhr-Universität Bochum und Prof. Dr. Dagmar Timmann von der Universität Duisburg-Essen liefern als zwei der ersten experimentelle Beweise dafür, dass das Kleinhirn zum Erlernen, aber auch zur Auslöschung konditionierter Furchtreaktionen beiträgt. Sie berichten darüber in der Zeitschrift eNeuro vom 4. Januar 2024.

Um der Rolle des Kleinhirns beim Furchtlernen auf die Spur zu kommen, führen die beiden Neurowissenschaftlerinnen Lernexperimente durch – die Neurologin mit Menschen und die Neurobiologin mit Mäusen. „In unseren Studien greifen wir auf klassische Furchtkonditionierungs-Experimente zurück und vergleichen dabei Menschen und Mäuse, die gesund sind, mit jenen mit einer Kleinhirnerkrankung, einer Ataxie“, fasst Timmann das gemeinsame Studiendesign zusammen.

Kleinhirnerkrankungen verstehen

Neben 20 gesunden Menschen hat die Neurologin in ihrer jüngsten Studie 20 Proband*innen ausgewählt, die unter seltenen Kleinhirnerkrankungen wie etwa der spinozerebellären Ataxie vom Typ 6 (SCA6) leiden. „Die Bewegungsstörung SCA6 wird durch einen genetischen Defekt ähnlich wie dem bei der Chorea Huntington ausgelöst und betrifft in Deutschland nur sehr wenige Menschen“, erklärt Timmann, die seit vielen Jahren am Uniklinikum Essen eine Ataxie-Sprechstunde anbietet. „Die SCA6 geht mit einem Verlust einer speziellen Sorte von Nervenzellen im Kleinhirn einher, den Purkinjezellen. Die Purkinjezellen sind wichtig in der Vermittlung zwischen dem Kleinhirn und dem übrigen Gehirn. Das Kleinhirn hilft dabei zum Beispiel dem Großhirn, Bewegungsabläufe zu optimieren“, so die Forscherin.

Studie zur Furchtkonditionierung

In ihrer Studie haben Timmann und ihr Team ihre Proband*innen innerhalb von zwei Tagen erst Furcht erlernen und dann verlernen lassen und sie währenddessen im 7-Tesla-Magnetresonanztomografen (7-Tesla-MRT) beobachtet.

Der direkte Vergleich von gesunden Versuchspersonen und Ataxie-Erkrankten hat die Annahme bestätigt, dass Menschen mit Ataxien Defizite beim Lernen und Verlernen von Furcht haben. Nicht nur der Erwerb und die Konsolidierung der erlernten Furchtreaktion dauerten länger als bei der gesunden Kontrollgruppe, auch das Verlernen der Furcht war langwieriger. Die Defizite waren dabei jedoch sehr viel geringer als erwartet: „Wir waren im Vorfeld davon ausgegangen, dass unsere Ataxie-Patienten deutlich stärker beeinträchtigt wären bei der Furchtkonditionierung und dass das wiederum mit deutlich sichtbaren Veränderungen im Zerebellum einhergehen würde“, so Timmann. Im 7-Tesla-MRT war das Aktivierungsmuster bei den Betroffenen mit Ataxien jedoch ebenfalls erstaunlich gut erhalten und zeigte nur geringe Abweichungen zu den gesunden Probanden.

Das Mausmodell

Um die Beobachtungen der Essener Klinikerin zu bestätigen, führte ihre Forschungskollegin in Bochum, Neurobiologin Melanie Mark, die Furchtkonditionierungsstudie mit gesunden und an SCA6-erkrankten Mäusen durch. Dazu benutzte Mark SCA6-Mausmodelle, die sie bereits für Vorgängerstudien entwickelt hatte.

Im Experiment lernten und verlernten die gesunden und erkrankten Mäuse, einen Ton mit einem unangenehmen Elektroschock zu assoziieren. „Unsere SCA6-Mäuse konnten genauso wie die Ataxie-Erkrankten die Furchtreaktion lernen, aber sie haben das Gelernte nicht konsolidiert. Ihre Erinnerung hat nicht bis zum nächsten Tag angehalten“, erklärt Mark. Damit konnte die Forscherin zeigen, dass das Furchtgedächtnis bei den SCA6-Mäusen im Vergleich zu den gesunden Mäusen gestört war. Die Kleinhirnerkrankung hatte verhindert, dass die Mäuse das Gelernte konsolidieren und darauf aufbauend eine erlernte Vorhersage treffen konnten.

Mark kommt damit zum gleichen Schluss wie Timmann: Das Zerebellum spielt beim Erlernen von Furchtreaktionen eine Rolle. Die Defizite waren aber auch beim Maus-Modell geringer als erwartet. „Bei dieser chronischen Erkrankung haben andere Gehirnregionen möglicherweise gelernt, das Defizit des Kleinhirns zu kompensieren. Das ist evolutionär gewollt. Wenn eine Region ausfällt, bricht nicht direkt der ganze neuronale Kreislauf zusammen. Das heißt nicht, dass das Kleinhirn nicht involviert wäre“, erklären Mark und Timmann. Das Team um Melanie Mark arbeitet nun auf Hochtouren daran, die Lern-Defizite in SCA 6-Mäusen mit verschiedenen Methoden zu beheben.

Originalveröffentlichung

Dagmar Timmann, Melanie Mark et al.: Mild Deficits in Fear Learning: Evidence from Humans and Mice with Cerebellar Cortical Degeneration, in: eNeuro, 2024, DOI: 10.1523/ENEURO.0365-23.2023

Pressekontakt

Prof. Dr. Melanie Mark
AG Verhaltensneurobiologie
Fakultät für Biologie und Biotechnologie
Ruhr-Universität Bochum
Tel.: +49 234 32 27913
E-Mail: melanie.mark@ruhr-uni-bochum.de

Prof. Dr. Dagmar Timmann
Experimentelle Neurologie
Klinik für Neurologie
Uniklinikum Essen
Tel.: +49 201 723 2180
E-Mail: dagmar.timmann-braun@uni-duisburg-essen.de

Ausführlicher Artikel im Wissenschaftsmagazin Rubin

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Veröffentlicht

Dienstag
07. Mai 2024
09:15 Uhr

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