Neurowissenschaften Der Dirigent unseres Gehirns
Lange Zeit wurde das Kleinhirn unterschätzt. Die Ergebnisse von zwei Forschungsgruppen des Sonderforschungsbereichs zeigen jedoch, dass es eine entscheidende Rolle bei der Regulierung von Emotionen spielt.
Zähne putzen, Fahrrad fahren, einen Apfel essen: Diese alltäglichen Handlungen gelingen uns nur dank einer oft übersehenen Region im Gehirn, dem sogenannten Kleinhirn oder Zerebellum. Es wiegt gerade einmal 150 Gramm, beinhaltet aber dafür 80 Prozent unserer Nervenzellen. Als Motorkontrollzentrum steuert es wesentliche Bewegungsabläufe des Körpers, ist für unser Gleichgewicht und unsere Koordination verantwortlich. Seit einigen Jahren weiß man, dass das Kleinhirn darüber hinaus kognitive Prozesse wie zum Beispiel das Lösen von Problemen mit kontrolliert. Und nicht nur das. Lange Zeit wurde ignoriert, dass das Kleinhirn auch eine wichtige Rolle bei der Regulierung unserer Emotionen spielt – etwa beim Verarbeiten von Furcht. Prof. Dr. Melanie Mark von der Ruhr-Universität Bochum und Prof. Dr. Dagmar Timmann von der Universität Duisburg-Essen liefern als zwei der ersten experimentelle Beweise dafür, dass das Kleinhirn zum Erlernen, aber auch zur Auslöschung konditionierter Furchtreaktionen beiträgt.
Dem Furchtlernen auf der Spur
Um der Rolle des Kleinhirns beim Furchtlernen auf die Spur zu kommen, führen die beiden Neurowissenschaftlerinnen Lernexperimente durch – die Neurologin mit Menschen und die Neurobiologin mit Mäusen. „In unseren Studien greifen wir auf klassische Furchtkonditionierungs-Experimente zurück und vergleichen dabei Menschen und Mäuse, die gesund sind, mit jenen mit einer Kleinhirnerkrankung, einer Ataxie“, fasst Timmann das gemeinsame Studiendesign zusammen.
Ataxie
Neben 20 gesunden Menschen hat die Neurologin in ihrer jüngsten Studie 20 Proband*innen ausgewählt, die unter seltenen Kleinhirnerkrankungen wie etwa der spinozerebellären Ataxie vom Typ 6 (SCA6) leiden. „Die Bewegungsstörung SCA6 wird durch einen genetischen Defekt ähnlich wie dem bei der Chorea Huntington ausgelöst und betrifft in Deutschland nur sehr wenige Menschen“, erklärt Timmann, die seit vielen Jahren am Uniklinikum Essen eine Ataxie-Sprechstunde anbietet. „Die SCA6 geht mit einem Verlust einer speziellen Sorte von Nervenzellen im Kleinhirn einher, den Purkinjezellen. Die Purkinjezellen sind wichtig in der Vermittlung zwischen dem Kleinhirn und dem übrigen Gehirn. Das Kleinhirn hilft dabei zum Beispiel dem Großhirn Bewegungsabläufe zu optimieren“, so die Forscherin.
Experimente zur Furchtkonditionierung
In ihrer Studie haben Timmann und ihr Team ihre Proband*innen innerhalb von zwei Tagen erst Furcht erlernen und dann verlernen lassen und sie währenddessen im 7-Tesla-Magnetresonanztomografen (7-Tesla-MRT) beobachtet.
7-Tesla-MRT-System
Um die Furcht auszulösen, bekamen die Versuchspersonen an Tag 1 immer dann an ihrem Schienbein einen unangenehmen elektrischen Schlag zu spüren, wenn sie auf dem Monitor ein bestimmtes Bild sahen. Schnell lernten sie, dass, wann immer dieses Bild gezeigt wird, ein Elektroschlag droht. Während des Experiments wurden der Hautleitwert und die Pupillengröße der Proband*innen gemessen. „Die Pupillen unserer Proband*innen weiteten sich und ihr Hautleitwert stieg an, wenn der Schock erfolgte. Und auch, so zeigte es sich im Verlauf des Experiments, wenn der Schmerz erwartet wurde“, so Timmann. Die Beobachtung deckt sich mit den Antworten, die die Versuchspersonen in den Fragebögen am Ende des Experiments gaben. Während am Anfang des Experiments das Bild neutrale Gefühle auslöste, gaben die Personen am Ende an, dass das Bild in ihnen Furcht auslöste. An Tag 2 wurde wieder das Bild gezeigt, doch folgte dieses Mal kein Schock. „Die Versuchspersonen verlernten die Furchtreaktion, was man Extinktion nennt“, erklärt Timmann.
Defizite beim Lernen und Verlernen
Und das Ergebnis? Der direkte Vergleich von gesunden Versuchspersonen und Ataxie-Erkrankten hat die Annahme bestätigt, dass Menschen mit Ataxien Defizite beim Lernen und Verlernen von Furcht haben. Nicht nur der Erwerb und die Konsolidierung der erlernten Furchtreaktion dauerten länger als bei der gesunden Kontrollgruppe, auch das Verlernen der Furcht war langwieriger. Die Defizite waren dabei jedoch sehr viel geringer als erwartet: „Wir waren im Vorfeld davon ausgegangen, dass unsere Ataxie-Patienten deutlich stärker beeinträchtigt wären bei der Furchtkonditionierung und dass das wiederum mit deutlich sichtbaren Veränderungen im Zerebellum einhergehen würde“, so Timmann. Im 7-Tesla-MRT war das Aktivierungsmuster bei den Betroffenen mit Ataxien jedoch ebenfalls erstaunlich gut erhalten und zeigte nur geringe Abweichungen zu den gesunden Probanden.
Das Mausmodell
Um die Beobachtungen der Essener Klinikerin zu bestätigen, führte ihre Forschungskollegin in Bochum, Neurobiologin Melanie Mark, die Furchtkonditionierungsstudie mit gesunden und an SCA6-erkrankten Mäusen durch. Dazu benutzte Mark SCA6-Mausmodelle, die sie bereits für Vorgängerstudien entwickelt hatte.
Infos zum Modell
„Wir wollten herausfinden, ob unsere degenerativen Kleinhirn-Mausmodelle ähnliche Defizite bei der Furchtkonditionierung zeigen“, so Mark. Das Lernexperiment sah vor, dass die gesunden und kranken Mäuse an Tag 1 so konditioniert wurden, dass, wann immer sie einen bestimmten Ton hörten, sie geschockt wurden und auf diese Weise lernten, den Ton fortan mit dem unangenehmen Schock zu assoziieren. Wann immer sie von nun an den Ton hörten, verfielen sie – sowohl die gesunden als auch die erkrankten Mäuse – aus Furcht vor dem Elektroschock in Starre. Einen Tag später ertönte nur der Ton, der Schock blieb aber aus. Die gesunden Mäuse fielen dennoch in Furchtstarre, weil sie den Schock erwarteten. Im Unterschied dazu zeigten die SCA6-Mäuse an Tag 2 deutlich weniger Furcht. „Unsere SCA6-Mäuse konnten genauso wie die Ataxie-Erkrankten die Furchtreaktion lernen, aber sie haben das Gelernte nicht konsolidiert. Ihre Erinnerung hat nicht bis zum nächsten Tag angehalten“, erklärt Mark. Damit konnte die Forscherin zeigen, dass das Furchtgedächtnis bei den SCA6-Mäusen im Vergleich zu den gesunden Mäusen gestört war. Die Kleinhirnerkrankung hatte verhindert, dass die Mäuse das Gelernte konsolidieren und darauf aufbauend eine erlernte Vorhersage treffen konnten.
Das ist evolutionär gewollt.
Mark kommt damit zum gleichen Schluss wie Timmann: Das Zerebellum spielt beim Erlernen von Furchtreaktionen eine Rolle. Die Defizite waren aber auch beim Maus-Modell geringer als erwartet. „Bei dieser chronischen Erkrankung haben andere Gehirnregionen möglicherweise gelernt, das Defizit des Kleinhirns zu kompensieren. Das ist evolutionär gewollt. Wenn eine Region ausfällt, bricht nicht direkt der ganze neuronale Kreislauf zusammen. Das heißt nicht, dass das Kleinhirn nicht involviert wäre“, erklären Mark und Timmann.
Fächerübergreifende Zusammenarbeit
Das Team um Melanie Mark arbeitet nun auf Hochtouren daran, die Lern-Defizite in SCA 6-Mäusen mit verschiedenen Methoden zu beheben. „Das Besondere unseres Mausmodells ist, dass wir einzelne Zellen und Zellpopulationen im Kleinhirn gezielt ansteuern und stimulieren können, um zu sehen, welche Rolle sie beim Lernen und Vergessen von Furcht spielen“, erklärt Mark. Auf lange Sicht hoffen Mark und Timmann, noch besser zu verstehen, was der genaue Beitrag des Kleinhirns bei diesen Lernvorgängen ist. Dazu ist die besondere Kooperation zwischen Neurologie und Neurobiologie, die der Sonderforschungsbereich 1280 ermöglicht, unabdingbar.
Das Zerebellum ist der Dirigent unseres Gehirns, der die Symphonien unserer Gedanken und Emotionen steuert.
Mark und Timmann schenken mit ihrer Forschung einer Gehirnregion die Beachtung, die sie längst verdient hat. Ihre Ergebnisse belegen, dass das Kleinhirn eine wichtige Rolle beim Fine-tuning unserer Furchtreaktionen spielt. „Das Zerebellum ist der Dirigent unseres Gehirns, der die Symphonien unserer Gedanken und Emotionen steuert“, beschreibt Mark. „Er sammelt und organisiert alle Informationen und gibt dann das Wissen an andere Gehirnregionen weiter, trifft eine Vorhersage.“