Kommentar Mathematik als Sprache reicht nicht aus
Volkswirte kommunizieren kaum noch in natürlicher Sprache. So kann die Ökonomie den gesellschaftlich relevanten Fragen nicht gerecht werden, meint Michael Roos und fordert ein Umdenken.
Die Mathematik ist die vorherrschende Sprache in der Volkswirtschaftslehre geworden. Gerade das macht die Disziplin für viele Volkswirte zu einer Wissenschaft und überlegen gegenüber anderen Sozialwissenschaften.
Sozialwissenschaftliche Theorien mathematisch zu formulieren hat ohne Zweifel viele Vorteile. Ich lehne das nicht grundsätzlich ab. Jedoch wird dadurch das Denken eingeengt. Ökonomen beschäftigen sich nicht oder nicht ausreichend mit einigen gesellschaftlich relevanten Problemen, weil sich diese nicht mathematisieren lassen.
Nützlich sind die mathematischen Methoden, weil sie Präzision erzwingen und Argumente für andere transparent und nachvollziehbar machen. Mit ihnen können wir die logische Richtigkeit eines Arguments beweisen. Schließlich erfordert die Mathematik Abstraktion und Konzentration auf das für wesentlich Gehaltene.
Präzision und logische Konsistenz sind nicht gleichbedeutend mit Wahrheit.
All diese Stärken bergen jedoch auch Gefahren. Präzision und logische Konsistenz sind nicht gleichbedeutend mit Wahrheit. Mathematisch geschulte Wissenschaftler haben oft ein Gefühl für die Schönheit oder Eleganz eines Arguments. Was innerhalb der reinen Mathematik ein Gütekriterium sein mag, hat aber keine Relevanz für Aussagen über die oft chaotisch erscheinende soziale Welt.
Transparenz und Nachvollziehbarkeit der Argumente gelten nur für mathematisch Ausgebildete. Da die meisten anderen Sozial- und Geisteswissenschaftler nicht mathematisch geschult sind, haben diese keinen Zugang mehr zu ökonomischen Theorien. Zugleich empfinden viele Ökonomen die Beschäftigung mit langen Texten und verbal formulierten Theorien als ermüdend. Ein Austausch zwischen den Disziplinen findet dadurch kaum noch statt, obwohl er für ein umfassendes Verständnis gesellschaftlich relevanter Fragen unabdingbar ist.
Das übliche mathematische Instrumentarium macht es zum Beispiel schwer, Fragen der Einkommens- und Vermögensverteilung zu analysieren. Daher haben Volkswirte dieses gesellschaftlich hochrelevante Thema lange vernachlässigt. Dasselbe gilt für die Verteilung und Auswirkung von Macht. Die Abstraktion führt zu einem unter Ökonomen sehr verbreiteten übermäßigen Optimismus. In mathematischen Modellen ist es kein Problem, sich dauerhaftes exponentielles Wachstum vorzustellen. Aber in einer realen Welt mit ökologischen Grenzen ist das kaum denkbar.
Darauf sollten sich die heutigen Ökonomen rückbesinnen.
Unsere Sprache prägt unsere Sicht auf die Welt. Sie bestimmt, was wir für wahr und für falsch halten – was wir für denkbar halten. Durch die Art und Weise, wie wir die Welt beschreiben, prägen wir die Welt mit. Die Mathematik ist auch in der Volkswirtschaftslehre nützlich. Allerdings ist ein kritischer Umgang mit ihr erforderlich.
Alfred Marshall, einer der Gründerväter der modernen Volkswirtschaftslehre, plädierte Anfang des 20. Jahrhunderts für einen wohlüberlegten Umgang mit der Mathematik. Für ihn war es unwahrscheinlich, dass eine gute mathematische Theorie gleichbedeutend war mit guter Ökonomik. Er empfahl: „Verwende die Mathematik als Kurzsprache, nicht als Motor der Analyse. Übersetze die Ergebnisse in natürliche Sprache. Illustriere das Argument mit Beispielen, die im realen Leben wichtig sind. Verbrenne die Mathematik.“ Darauf sollten sich die heutigen Ökonomen rückbesinnen.