Linguistik Virtueller Flausch

Im virtuellen Raum bilden sich Communities mit eigenen Flausch-Ausdrücken. Will man dazugehören, muss man lernen, welche Worte, Phrasen, Hashtags und Emojis die Community ausmachen.

Was auf den ersten Blick oberflächlich erscheint, erfüllt durchaus seinen Zweck: Ausdrücke wie „Du bist der Hammer. Weiter so! Herz-Emoji“ können einen Menschen wohlig-warm einhüllen – wie in eine flauschige Decke. Als „virtuellen Flausch“ bezeichnen darum die Bochumer Forscherinnen Prof. Dr. Tatjana Scheffler und Yulia Clausen Worte und Phrasen, die in Online-Foren und Kommentarspalten unterschiedlicher Social-Media-Plattformen zu finden sind und wohlige Gefühle erzeugen. Im Unterschied zur Hassrede wurde dem Phänomen des virtuellen Flauschs bisher so gut wie keine wissenschaftliche Aufmerksamkeit geschenkt. Das wollen die Linguistinnen der Ruhr-Universität Bochum ändern. In einem Teilprojekt des Sonderforschungsbereichs Virtuelle Lebenswelten untersuchen sie, welche sprachlichen Flausch-Mittel in den sozialen Medien Gruppenzugehörigkeit fördern.

Es gibt ein Gegenstück zur Hassrede.

— Yulia Clausen

Welche Worte, Sätze und Metaphern werden häufig verwendet? Welche Hashtags sind beliebt? Welche Emojis werden zur Beziehungspflege eingesetzt? „Im virtuellen Raum konstituieren sich Gemeinschaften, etwa Fan-Communities, allein über die Sprache, weil es wenig andere Darstellungsmöglichkeiten gibt. Diese Prozesse wollen wir nachvollziehen“, erklärt Tatjana Scheffler das Projektziel. „Wir möchten mit unserer Forschung präsenter machen, dass es ein Gegenstück zur Hassrede gibt, nämlich virtuellen Flausch“, ergänzt ihre Mitarbeiterin Yulia Clausen.

Ein neuer Begriff

Der Begriff „Flausch“ tauchte erstmals um die 2010er-Jahre in Online-Communities auf und verfestigte sich dort schnell, erzählen die Forscherinnen.

Entstehungsgeschichte des Begriffs

Anfang der 2000er-Jahre bezog sich der Begriff „Flausch“ noch wortwörtlich auf flauschige Katzenbilder, die zum Beispiel gepostet wurden, um die Stimmung zu heben. 2009 tauchte er dann im reichweitenstarken Watchblog des Journalisten Stefan Niggemeier auf. 2012 griff die Community der Piraten-Partei den Begriff auf; er fand sogar Einzug in die Netiquette der Partei. Seitdem hat er sich etabliert. Im Englischen haben sich die Ausdrücke candy speech und candystorm durchgesetzt.

„Der Begriff leitet sich ab von etwas Flauschigem, etwa einem Teddybären, und umfasst nette, liebevolle Ausdrücke, die andere ermutigen, aufmuntern, unterstützen und bestärken sollen“, erklärt Clausen. Clausen und Scheffler wollen ihn auch in der Wissenschaftscommunity etablieren.

83.000 Kommentare

In ihrem Forschungsprojekt untersuchen sie insgesamt circa 83.000 Kommentare unter YouTube-Videos nach Flausch-Ausdrücken. „Der umfangreiche Datensatz stammt von Louis Cotgrove und umfasst den Zeitraum von 2008 bis 2018. Die Videos sind dem Bereich Jugendkultur zuzuordnen; es sind Videos mit Bezug zu Mode, Sport oder Musik“, erzählt Scheffler.

Sieben Flausch-Typen identifiziert

Mithilfe von computerlinguistischen Methoden haben die Forscherinnen bisher eine Reihe wiederkehrender Interaktionen und Sprachmuster identifiziert. „Die sieben Typen von Flauschausdrücken sind Zustimmung, Zuneigungsbekundung, positives Feedback, Kompliment, Dankbarkeit, Ermutigung und Sympathie“, zählt Clausen auf. Neben dem positiven Feedback, das als Reaktion auf den ursprünglichen Beitrag oder einen Kommentar gepostet wird – „Das Lied ist mega mega cool“ oder „ein sehr gutes Workout für den Bauch“ – beziehen sich die anderen sechs Arten von Flauschäußerungen auf die Nutzer*innen selbst.

Ihr seid einfach der Hammer !!!!

— Häufiger Kommentar unter YouTube-Videos

„Sie drücken etwa Bewunderung, Liebe und Zuneigung gegenüber Autor*innen und anderen aus der Community aus. Kommentare wie ‚Lieb Euch ♥ Ihr seid einfach der Hammer !!!! Ihr süßeen ♥‘ sind besonders häufig“, erzählt Clausen. Man mache sich untereinander Komplimente, wähle freundliche Worte und drücke Zustimmung aus. Darüber hinaus hat die Linguistin Ausdrücke von spontan geäußerter, aufrichtiger Dankbarkeit gefunden, und solche, die zum Weitermachen ermutigen. „Äußerungen, die Mitgefühl und Verständnis ausdrücken, gibt es auch. Dabei handelt es sich meist um Reaktionen auf negative oder betrübliche Mitteilungen anderer Nutzer*innen. Es geht nicht um die Abwertung von Hater*innen“, betont Clausen.

Ein Einhorn als Erkennungszeichen

Die Forscherin hat auch beobachtet, dass häufig ganz spezifische Emojis benutzt werden, um Gruppenzugehörigkeit zu markieren. „In einer Fancommunity wurde immer wieder das Einhorn-Emoji verwendet, wie eine Art Marken- oder Erkennungszeichen“, berichtet Clausen. „Andere Communities verwenden das Herz-Emoji in einer ganz bestimmten Farbe, etwa grün für Nachhaltigkeitsthemen“, weiß Scheffler. Auf diese Weise entsteht ein Set an Interaktionsregeln, die der Community ganz eigen sind. „Wir sprechen auch von einem common ground, also von einem Wissen um diese Sprachmittel, das innerhalb der Community geteilt wird “, so Clausen.

Flauschhandlungen bewegen Menschen dazu, hier gern und viel Zeit zu verbringen.

— Tatjana Scheffler

„Wir nehmen an, dass es die Flauschhandlungen und das Gemeinschaftsbildende sind, was Menschen dazu bewegt, hier gern und viel Zeit zu verbringen. Sie sind ja auf Plattformen wie YouTube nicht wegen der Hassrede und weil sie sich ständig beschimpfen lassen wollen. Im Gegenteil: Sie holen sich hier vielleicht auch das, was sie in der nicht-virtuellen Welt nicht bekommen“, resümiert Scheffler. Das Forschungsprojekt dient daher auch dazu, aufzuzeigen, dass in den sozialen Medien nicht nur Hass-Rede verbreitet ist.

Noch haben die Linguistinnen den umfangreichen Datenschatz nicht vollständig ausgewertet. Ihr langfristiges Ziel ist es, ein System, eine Software, zu entwickeln, mit der sich Flausch-Ausdrücke automatisch erkennen lassen. In einem nächsten Schritt wollen sie dazu ihre Erkenntnisse und Daten mit anderen Forscher*innen teilen. Außerdem beabsichtigen sie, den Flausch weiterer Social-Media-Kanäle, etwa Instagram, in ihr Modell miteinfließen zu lassen. Wir sagen: Weiter so! Daumen-hoch-Emoji.

Virtuelle Lebenswelten erforschen

Das Virtuelle wird zunehmend zum Normalen. Im Sonderforschungsbereich (SFB) 1567 untersuchen über 50 Forschende, was das Virtuelle bedeutet und welche Folgen es für unsere Lebenswelten hat.

Das Forschungsprojekt von Scheffler und Clausen ist dem Projektbereich D zugeordnet, das sich mit der Frage befasst, inwiefern Medien Interaktivität formen, ordnen und zur Darstellung bringen.

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Veröffentlicht

Freitag
08. November 2024
09:09 Uhr

Dieser Artikel wird am 2. Dezember 2024 in Rubin 2/2024 erscheinen.

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