Neurowissenschaft Wie Einzelzellen und Zellverbünde beim Navigieren zusammenwirken
Sowohl das Verhalten einzelner Nervenzellen als auch das Verhalten großer Zellverbünde scheinen wichtig für die räumliche Orientierung zu sein. Wie aber hängt das eine mit dem anderen zusammen?
Sich räumlich orientieren zu können ist eine fundamentale Fähigkeit des Gehirns, die bei vielen neurologischen und psychiatrischen Krankheiten beeinträchtigt ist. Forschungsgruppen weltweit haben Daten über die neuronalen Grundlagen der räumlichen Orientierung zusammengetragen – sowohl die Aktivität einzelner Nervenzellen im Gehirn als auch die großer Zellverbünde scheint eine entscheidende Rolle zu spielen. Wie jedoch das Verhalten individueller Zellen mit dem der großen Zellnetzwerke zusammenhängt, ist bislang weitestgehend unerforscht.
Verschiedene Theorien dazu stellt ein internationales Autorenteam in der Zeitschrift „Trends in Cognitive Sciences“ vom 24. Mai 2019 vor. Für den Review-Artikel kooperierten Dr. Lukas Kunz vom Universitätsklinikum Freiburg, Prof. Dr. Liang Wang von der Chinese Academy of Sciences in Peking und Prof. Dr. Nikolai Axmacher von der Ruhr-Universität Bochum mit weiteren Kollegen der Columbia University in New York.
Das GPS-System des Gehirns
Zahlreiche Tierstudien haben gezeigt, dass es besondere Nervenzellen im Gehirn gibt, die für die Navigation wichtig sind. Die Aktivität der sogenannten Ortszellen codiert beispielsweise, wo im Raum sich ein Individuum befindet. „Zusammen mit anderen spezialisierten Zellen wie den Rasterzellen bilden sie eine Art GPS-System im Gehirn“, erklärt Nikolai Axmacher, Leiter der Bochumer Abteilung Neuropsychologie.
Studien mit Menschen nahmen hingegen üblicherweise die Aktivität größerer Hirnregionen in den Blick und entschlüsselten charakteristische Areale, die für die räumliche Orientierung wichtig sind.
Unabhängig voneinander fanden zwei Forschungsgruppen – eine in New York und ein Verbund aus Bochum, Freiburg und Peking – kürzlich ein mögliches Bindeglied zwischen der Einzelzell- und der Netzwerkebene. In dem vorliegenden Artikel schildern die Teams gemeinsam ihre auf den experimentellen Ergebnissen basierende Theorie.
Mögliches Bindeglied zwischen den Skalen entdeckt
Die Gruppen untersuchten die rhythmische Hirnaktivität von Zellverbünden im sogenannten entorhinalen Kortex. In diesem Hirnbereich sind die Rasterzellen lokalisiert, die in Tierstudien umfangreich charakterisiert wurden und für die eine Rolle bei der räumlichen Orientierung auf Einzelzellebene belegt ist. In den großflächigeren rhythmischen Hirnwellen fanden die Forscher ähnliche Charakteristika, wie sie zuvor für Einzelzellen beschrieben worden waren.
Wie aber hängen die Oszillationen genau mit der Aktivität einzelner Zellen zusammen? Eine Theorie nimmt an, dass benachbarte Zellen ähnliche Orte codieren; dieses räumliche Muster könnte dann auch in den Oszillationen sichtbar sein. Ein anderer Ansatz beschreibt, dass beim Navigieren in bestimmte Richtungen eine höhere Anzahl unterschiedlicher Zellen aktiviert wird als beim Navigieren in andere Richtungen, was wiederum zu verstärkten Oszillationen führen könnte.
„Die EEG-Oszillationen könnten also den Link zwischen Einzelzellen und den üblicherweise bei Menschen untersuchten Netzwerken darstellen“, folgert Axmacher.
Alternative Theorie
Die Forscher beschreiben jedoch auch einen ganz anderen Interpretationsansatz: „Es ist ebenfalls möglich, dass die Phänomene auf Einzelzell- und auf Netzwerkebene unabhängig voneinander sind“, so Lukas Kunz, Neurowissenschaftler am Universitätsklinikum Freiburg. „Die beiden Ebenen könnten also parallel voneinander zum Verhalten beitragen, ohne kausal miteinander verknüpft zu sein.“
Die Theorien wollen die Forscher künftig weiter überprüfen. „Genauere Einblicke sind nicht nur wichtig, um die Forschungsergebnisse, die an Tieren und Menschen gewonnen werden, integrieren zu können“, sagen die Autoren. „Es wäre auch wichtig zu wissen, ob Einzelzell- und Netzwerkebene unabhängig voneinander oder gemeinsam durch Krankheiten betroffen sind – und ob sie somit zusammen oder einzeln durch pharmakologische Therapien beeinflusst werden könnten.“