Medizinethik Der Kippspiegel der Krisentechnologie
Ob Distanzunterricht oder Warnungen vor dem Virus über Apps: Ohne Technik hätten Gesellschaften während der Corona-Pandemie kaum funktioniert. Doch was macht die Technologie mit uns und wir mit ihr?
Als im Dezember 2019 die ersten Meldungen über ein neues Virus um die Welt gingen, zeigten die Bilder nicht nur menschenleere Straßen und überfüllte Krankenhäuser. Sie zeigten auch eine Fülle an neuen Technologien, gemacht um die neue Bedrohung zu kontrollieren. Apps zur digitalen Kontaktnachverfolgung, Corona-Dashboards und Videokonferenzen: Krisen erschüttern die Routinen des gesellschaftlichen Zusammenlebens. Zugleich offenbaren sie jedoch auch, wie moderne Gesellschaften funktionieren und zu welchen Anpassungsleistungen sie fähig sind. Was das mit uns und den Technologien in der Coronakrise gemacht hat, beleuchten Forschende im Buch „Technologien der Krise“. Die Autorinnen und Autoren um die Herausgeber Dr. Dennis Krämer, Dr. Joschka Haltaufderheide und Prof. Dr. Dr. Jochen Vollmann von der Abteilung Medizinische Ethik und Geschichte der Medizin der Ruhr-Universität Bochum zeigen aus interdisziplinärer Perspektive die Bedeutung von Technologien in der Covid-19-Pandemie. Das Buch ist open access verfügbar.
Von Apps, Kontaktnachverfolgung und Videokonferenzen
„Die primäre Rolle von Technologien in der Coronakrise besteht darin, dass sie das weitere Funktionieren des gesellschaftlichen Lebens unter dem Gebot des Abstandhaltens sicherstellen sollen“, so Joschka Haltaufderheide. Zu Anfang der Pandemie stellten der Philosoph und der Soziologe Dennis Krämer fest, dass der Technologie eine immer größere Rolle zugeschrieben wird. „Das macht aber doch etwas mit der Gesellschaft“, so Haltaufderheide. Gemeinsam analysierten die beiden Forscher am Beispiel der Corona-Warn-Apps die auftretenden Probleme wie etwa den gerechten Zugang zur App über Smartphones oder die Rolle von staatlichen Institutionen und großen Tech-Firmen. Dass sich durch die Technologien unser gesellschaftliches Denken und die Wahrnehmung verändern können, zeigt sich exemplarisch an der App. Joschka Haltaufderheide erklärt: „Es ist wie ein Kippspiegel. Durch die Corona-Warn-App ist eine neue Sicht dazu gekommen. Hat man sich in den pandemischen Zeiten mit Freunden getroffen, und danach hat die Warnapp rot aufgeleuchtet, so kann man die Begegnung mit den Freunden plötzlich als Gesundheitsrisiko wahrnehmen. Das kann natürlich etwas sehr Positives sein, weil es erlaubt, sich und andere zu informieren und zu schützen. Es eröffnet uns neue Möglichkeiten, solidarisch miteinander zu sein. Aber es kann eben auch negative Effekte haben.“ Die Möglichkeiten und Grenzen solcher Technologien, so Haltaufderheide, müssen daher kritisch reflektiert werden.
In Zusammenarbeit
Allein waren die Wissenschaftler der RUB mit ihrem neuen Forschungsinteresse nicht. „Da waren Kolleginnen und Kollegen aus ganz unterschiedlichen Bereichen: aus der Informatik, aus den Gesundheitswissenschaften, aus der Soziologie. Alle mit eigenen Fragestellungen und Perspektiven, aber alle mit dem Ziel, die Entwicklung von Technologien in und durch die Krise zu begleiten“, erläutert Dennis Krämer. Die Idee zu einer gemeinsamen Veröffentlichung war so schnell geboren. So greifen die weiteren Autoren den Distanzunterricht und dessen technologische Beiträge für Lehr-Lern-Formate auf, untersuchen die Rolle von Unternehmen wie Google und Apple in der Pandemie, werfen einen Blick auf den Stellenwert von Smart Speakern und gehen den Folgen der sozialen Isolation nach. „Jeder hat in seinem Bereich Erkenntnisse hervorgebracht, die einen Teil des Panoramas der Problematiken von Technologien in Krisen bilden“, so Joschka Haltaufderheide abschließend. Er hofft, dass die Impulse der Veröffentlichung in der Forschung weitergedacht werden. Es dürfte sicher sein, so meint der Forscher, dass die nächste Krise nur eine Frage der Zeit ist.