Wer aktiv und selbständig lernt, merkt sich mehr. © RUB, Marquard

Mechanismus entschlüsselt Lernen und Gedächtnis mit Willenskraft verbessern

Wer zum Lernen gezwungen wird, merkt sich nicht so viel wie jemand, der selbstständig übt. Warum das so ist, haben Neurowissenschaftlerinnen und -wissenschaftler nun herausgefunden.

Ein internationales Forschungsteam hat erstmals die physiologischen Mechanismen identifiziert, die dafür verantwortlich sind, dass Menschen besonders effizient lernen, wenn sie es selbstbestimmt aus einer Eigenmotivation heraus tun. Entscheidend hierfür sind Hirnwellen im Theta-Frequenzbereich, die eine für das Gedächtnis wichtige Hirnregion, den Hippocampus, regulieren – genauer gesagt dessen Fähigkeit, Informationen zu speichern und abzurufen. Das Team des SPECS Laboratory am Institute for Bioengineering of Catalonia berichtet über die Forschung zusammen mit Forschenden der Abteilung Neuropsychologie der Ruhr-Universität Bochum in der Zeitschrift Proceedings of the National Academy of Sciences, kurz PNAS. Die Publikation erscheint online in der Woche vom 1. März 2021.

Aktives Lernen ist ein großes Thema in Erziehung, Psychologie und Neurowissenschaft. Im Lauf der Zeit haben zahlreiche Studien belegt, dass beim aktiven Lernen Aufmerksamkeit, Motivation und kognitive Kontrolle moduliert werden und so das Gedächtnis besser wird. Bei Mäusen hatten Forschende auch den zugrunde liegenden Mechanismus entdeckt; ob dieser auch bei Menschen existiert, war jedoch unklar. Dieser Nachweis gelang nun einem internationalen Team, geleitet von Prof. Dr. Paul Verschure vom SPECS Laboratory und Prof. Dr. Nikolai Axmacher von der Bochumer Abteilung für Neuropsychologie, in Kooperation mit Kollegen der Pompeu Fabra University und dem Team um Dr. Rodrigo Rocamora vom Hospital del Mar in Spanien. Der Schlüssel liegt in Theta-Oszillationen, einer besonderen Form der Hirnaktivität, die der Hippocampus generiert.

Gedächtnis und freier Wille

Die Forscherinnen und Forscher untersuchten die Theta-Wellen bei Menschen mit Epilepsie, denen zur Operationsplanung Elektroden in das Gehirn implantiert worden waren. Die Patientinnen und Patienten absolvierten ein Spiel in der virtuellen Realität. Dabei mussten sie entlang einer quadratischen Strecke navigieren und sich Bilder einprägen, die an unterschiedlichen Stellen des Wegs präsentiert wurden.

Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer konnten sich entweder aktiv in der virtuellen Umgebung bewegen oder sahen nur die Bilder entlang des Pfades, den ein anderer Teilnehmer zurückgelegt hatte. Im zweiten Fall hatten die Patienten also keine Kontrolle darüber, wie sie sich die verschiedenen Objekte in der virtuellen Umgebung einprägen konnten.

Hirnaktivität für passive und aktive Navigation verglichen

Das Forschungsteam zeichnete die elektrophysiologische Aktivität im Hippocampus während der Navigationsaufgabe auf und testete, wie gut sich die Teilnehmenden nach dem Versuch an die Objekte erinnern konnten. Durch den Vergleich von aktiver und passiver Navigation konnten sie die neurophysiologischen Mechanismen identifizieren, die für das selbstständige Lernen wichtig sind.

„Bei Teilnehmenden, die aktiv navigieren durften, haben wir einen Anstieg der Theta-Oszillationen beobachtet, die das Lernen und anschließend das Erinnern effizienter gemacht haben. Es gab allerdings zwei aufeinanderfolgende Phänomene, die zeitlich nur Millisekunden auseinanderlagen: Eines korrespondierte mit dem Einspeichern der Information, das andere mit dem Abruf der zuvor gespeicherten Information – wir sehen also eine Reaktivierung des Gedächtnisses“, erklärt Dr. Daniel Pacheco, Erstautor der Studie, der in Bochum und Barcelona forscht.

Tatsächlich zeigten Patientinnen und Patienten, die frei durch die virtuelle Umgebung navigierten und Informationen somit besser speichern und erinnern konnten, eine ähnliche Theta-Aktivität, wie sie zuvor bei Nagetieren beobachtet worden war. Die Ergebnisse schlagen damit eine Brücke zwischen den experimentellen Ergebnissen aus Tierversuchsstudien und der Forschung am menschlichen Gedächtnis.

Implikationen für Pädagogik und Psychologie

Laut den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern sind die praktischen Implikationen dieser Ergebnisse weitreichend. „Zu wissen, dass es diese zwei unterschiedlichen Momente der Theta-Oszillationen für das Speichern und Erinnern gibt, könnte helfen, konkrete Interventionen zu entwickeln“, so Pacheco. „Zum Beispiel könnte man die Theta-Oszillationen so manipulieren, dass Erinnerungen an traumatische Erlebnisse erträglicher würden, oder Erinnerungen verstärken, die durch Amnesie oder neurodegenerative Krankheiten nicht mehr zugänglich sind.“ Die Forschenden sehen darüber hinaus eine Relevanz für den Bildungsbereich, da ihre Ergebnisse bestätigen, dass Motivation, kognitive Kontrolle und die Möglichkeit, für sich selbst zu entscheiden, Schlüssel zum effizienten Lernen sind.

„Die Bedeutung dieser Ergebnisse ist enorm“, sagt Paul Verschure, ebenfalls Autor der Studie. „Nach 20 Jahren Forschung haben wir endlich diesen Punkt erreicht, und die Ergebnisse sind klar. Die Tatsache, dass die Willenskraft entscheidend ist, um Informationen ins Gedächtnis zu integrieren, liefert uns Argumente zu sagen, dass Menschen, die zu etwas gezwungen werden, schlechter lernen werden.“

Förderung

Die Arbeiten wurden unterstützt vom Europäischen Forschungsrat (341196), im Rahmen des Horizon-2020-Programms der EU (826421) sowie der Deutschen Forschungsgemeinschaft (316803389–SFB 1280, 122679504–SFB 874).

Originalveröffentlichung

Daniel Pacheco Estefan, Riccardo Zucca, Xerxes Arsiwalla, Alessandro Principe, Hui Zhang, Rodrigo Rocamora, Nikolai Axmacher, Paul F. M. J. Verschure: Volitional learning promotes theta phase coding in the human hippocampus, in: PNAS, 2021, DOI: 10.1073/pnas.2021238118

Pressekontakt

Prof. Dr. Nikolai Axmacher
Abteilung Neuropsychologie
Fakultät für Psychologie
Ruhr-Universität Bochum
Tel.: +49 234 32 22674
E-Mail: nikolai.axmacher@rub.de

Veröffentlicht

Dienstag
02. März 2021
10:04 Uhr

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