Neurophilosophie Wie Menschen sich an Ich-freie Erlebnisse erinnern können
Menschen, die intensiv meditieren, berichten von Erinnerungen an Zustände, in denen ihr Ich-Gefühl verschwindet. Ist so etwas überhaupt möglich?
Psychoaktive Substanzen oder Meditation können bei Menschen die Wahrnehmung auslösen, dass sich das Ich auflöst und im Erleben nicht zugegen ist. Ob man Berichte über Erinnerungen an solche Erlebnisse ernst nehmen muss, haben die Philosophen Dr. Raphael Millière von der Columbia University New York und Prof. Dr. Albert Newen von der Ruhr-Universität Bochum analysiert. Sie kommen zu dem Schluss, dass selbstvergessene Erinnerungen möglich sind. Ihre Argumentation beschreiben sie in der Zeitschrift „Erkenntnis“, online veröffentlicht am 12. Mai 2022.
„Ohne solche Erfahrungen können wir uns nicht vorstellen, was es heißen soll, wenn sich das Ich auflöst“, sagt Albert Newen. „Sind die Erinnerungen nicht besser als eine nachträgliche Rekonstruktion des Erlebten zu interpretieren, die den Erlebniszustand falsch bewertet?“, fragte er gemeinsam mit Raphael Millière. Im Alltagsbewusstsein ist das Ich stets präsent. Wenn man nach einem Autoschlüssel greift, spürt man implizit, dass man selbst der Akteur ist und dass es der eigene Arm ist, der die Bewegung ausführt. Wenn man etwas betrachtet, erlebt man sich selbst im Zentrum der Sehperspektive.
Hinweise auf Vorliegen von Ich-freien Erlebnissen
Von Menschen mit neurologischen Beeinträchtigungen, etwa nach Schlaganfällen, ist bekannt, dass einzelne Facetten dieser Ich-Wahrnehmung gestört sein können. „Außerdem weiß man, dass sich neurale Verarbeitungen unter Meditation deutlich verändern“, sagen Newen und Millière „Wir sollten also anerkennen, dass es Erlebnisse ohne jede Facette des Ichs gibt.“ Aber selbst dann bleibt fragwürdig, ob man sich daran erinnern kann, erläutert Newen: „Wenn jemand eine Erinnerung an ein Ich-freies Erlebnis beschreibt, ist er beim Erinnern in einem Zustand des Selbstbewusstseins – und wie kann er sich an eine Episode erinnern, wenn er nicht auch schon im ursprünglichen Erlebnis ein Bewusstsein von sich hatte?“
Erklärung mit dem Bochumer Modell des Erinnerns
Das Bochumer Modell des Erinnerns, das in der Forschungsgruppe 2812 entwickelt wird, geht davon aus, dass Menschen beim Erinnern ein Szenario konstruieren. Der Prozess startet mit der Aktivierung einer Gedächtnisspur, in der Kernteile des Ereignisses gespeichert sind. Die Gedächtnisspur wird dann durch Hintergrundwissen angereichert, sodass eine lebhafte Erinnerung eines Ereignisses aufgebaut wird. Zudem ergänzen Menschen in der Konstruktion normalerweise zwei Ich-Facetten: Sie erfassen, dass sie selbst es sind, die in die Szene involviert sind, und dass die Erinnerung ihre eigene ist. Die Forscher sprechen von Selbstinvolviertsein und Meinigkeit der Erinnerung.
Newen und Millière führen an, dass Selbstinvolviertsein und Meinigkeit jedoch getrennte Aspekte sein müssen. Denn manche Patienten beschreiben, in eine Episode involviert gewesen zu sein („Ich erinnere mich an die Szene, in der ich etwas getan habe“), ohne die Erinnerung als sich selbst zugehörig zu empfinden – die Meinigkeit der Erinnerung fehlt. Die beiden in der Konstruktion ergänzten Ich-Facetten können in der ursprünglichen Erinnerung fehlen und kommen dann erst im Konstruktionsprozess dazu. Selbst wenn das ursprüngliche Erlebnis keinerlei Facetten des Ichs beinhaltete und ohne solche in der Gedächtnisspur hinterlegt ist, kann man Facetten des Ichs in die Konstruktion einbeziehen. Eine Erinnerung an Ich-freie Erlebnisse und die Berichte davon sind somit ernst zu nehmen.