Chemie Tsunami im Wasserglas
Mit einem neuen Experiment ist es gelungen, die Auswirkungen eines in Lösung befindlichen Elektrons auf die umgebende Flüssigkeit zu beobachten.
Für viele physikalische, chemische und biologische Prozesse spielen sogenannte hydratisierte Elektronen eine große Rolle. Sie sind nicht an ein Atom oder Molekül gebunden und befinden sich frei in der Lösung. Da sie immer nur als Zwischenprodukt entstehen, sind sie extrem kurzlebig. Das Team des Exzellenzclusters Ruhr Explores Solvation RESOLV an der Ruhr-Universität Bochum konnte in einem neuartigen Experiment zum ersten Mal beobachten, wie das hydratisierte Elektron im Laufe seiner Lebensdauer auf die Lösung wirkt. Die Forschenden um Prof. Dr. Martina Havenith-Newen berichten in der Zeitschrift Proceedings of the National Academy of Science PNAS vom 15. Februar 2023.
Das einfachste Anion
„Ein einzelnes Elektron in Wasser ist das einfachste denkbare Anion, das allerdings in einer Vielzahl von chemischen Prozessen eine große Bedeutung hat“, schildert Martina Havenith die Bedeutung des Untersuchungsobjekts. „Es spielt beispielsweise eine wichtige Rolle bei der Energieübertragung während foto- und elektrochemischer Phänomene, in der Atmosphärenchemie, bei der Strahlenschädigung biologischer Stoffe und in der medizinischen Therapie.“ Das hat dem hydratisierten Elektron seit mehreren Jahrzehnten die ständige Aufmerksamkeit von experimentellen und theoretischen Gruppen eingetragen.
Die Forschenden von RESOLV haben ein neuartiges Experiment aufgebaut, um die Entstehung und zeitliche Entwicklung des hydratisierten Elektrons aus der Perspektive des Lösungsmittels zu verfolgen: „Direkt nach seiner Erzeugung mittels eines intensiven Laserstrahls in einem Wasserstrahl konnten wir ein delokalisiertes Elektron beobachten“, schildert Martina Havenith-Newen. Die Ladungsverteilung erstreckt sich dabei über 20 Angstrom. Innerhalb von weniger als einem Millionstel von einer Millionstel Sekunden (500 Femtosekunden) wird die Ladung in dem Wassernetzwerk in einem zehnmal kleineren Bereich lokalisiert.
Es bildet sich ein erstaunlich stabiles sogenanntes lokalisiertes Elektron, dessen Fingerabdruck im Wassernetzwerk die Forschenden aufgrund der Empfindlichkeit des Experiments mit einem ultrakurzen Laserpuls im Terahertz-Bereich erstmals live beobachten konnten. „Das erstaunliche Ergebnis war, dass die Wasserhülle um das negativ geladene Elektron nicht so stabil ist wie zum Beispiel im Falle von Salzen, sondern die Wassermoleküle in der ersten Hülle sich sogar noch mehr bewegen können als im normalen Wasser. Dieses kleinste Anion nimmt daher eine Sonderrolle ein“, resümiert Martina Havenith-Newen.
„Zusätzlich zeigten unsere Aufnahmen die Entstehung eines Wasserbebens oder eines Tsunamis im Wasser“, so Martina Havenith-Newen. Das Team konnte zeigen, dass parallel zu der Abtrennung des Elektrons und der Erzeugung eines Hydronium-Kations Wellen im Wassernetzwerk erzeugt werden, die nur sehr langsam abklingen. „Dies wurde möglich, da wir mit unserer neuen Technik selbst kleinste Änderungen des Wassernetzwerkes mit einer hohen Zeitauflösung verfolgen können“, erklärt die Forscherin.