Newsportal - Ruhr-Universität Bochum
Auf Talentsuche im Ruhrgebiet
Freitagmorgen, 8 Uhr, Schulhof der Willy-Brandt-Gesamtschule in Bochum-Werne. Ich bin verabredet mit Mira Stepec, einer von fünf Talentscouts der RUB. Bisher kenne ich ihre Arbeit nur aus Erzählungen. Was ein Scout aber den ganzen Tag macht, kann ich mir nur schwer vorstellen. Was sind überhaupt Talente abseits von Klaviervirtuosen in Windeln oder Fußballwunderkindern? Und wie finde ich sie an den Gesamtschulen, Berufskollegs und Gymnasien in Bochum und Umgebung?
Voller Terminkalender der Schüler
Im kargen und extrem kalten Beratungsbüro der Schule erzählt mir Stepec, wer uns als Erstes besuchen wird: Sabah ist 17 Jahre alt und eine gute Schülerin. Sie engagiert sich in der Flüchtlingshilfe und arbeitet in der Gastronomie. Als Sabah vor uns sitzt und aus ihrem Alltag erzählt, bin ich baff: Ihre Tage müssen mehr als 24 Stunden haben, wie kann sie ihr Pensum sonst schaffen? Schule, Hausaufgaben, Sport, Fahrschule, Job, Ehrenamt im Flüchtlingsheim, Familie, Freunde – Sabah ist selten vor 22 Uhr zu Hause.
„Ich möchte Flüchtlingen helfen, sich in Deutschland eine Zukunft aufzubauen“, berichtet Sabah. Mit Stepecs Hilfe hat sie für die anstehenden Ferien einen Schnuppertag an der Fachhochschule Dortmund vereinbart. Sie wird dort den Talentscout Serah treffen und herausfinden, was sie beim Studium der Sozialen Arbeit erwartet.
Meine Eltern können mich leider nicht unterstützen.
Das 30-minütige Gespräch mit Sabah ist sehr intensiv. Ich frage mich, wie ein junger Mensch, der keine Unterstützung aus seinem Elternhaus erfährt, so zielgerichtet handeln kann und seine Zukunft so aktiv plant.
Viel Zeit zum Verschnaufen bleibt nicht. Der nächste Schüler steht schon vor der Tür. Philip, 17 Jahre, möchte etwas Technisches studieren. „Ob ich lieber Maschinenbau oder Elektrotechnik wählen soll, weiß nicht noch nicht“, erzählt er. „Ich denke viel mehr darüber nach, wie ich ein Studium überhaupt finanzieren soll. Meine Eltern können mich leider nicht unterstützen.“ Stepec erklärt ihm die Vor- und Nachteile des Bafögs und spricht mit ihm über die Bewerbung für ein Stipendium. Die Erleichterung steht Philip ins Gesicht geschrieben, und er verabredet mit Stepec, sich über die verschiedenen Stipendien für Erstsemester zu informieren.
Kein Gespräch gleich dem anderen
Nach einer kurzen Pause haben wir noch drei weitere Gespräche. Stepec schafft es, alle Schüler zum Reden zu bringen und ihr von ihren Träumen und Wünschen zu berichten. Sie vereinbart mit jedem Schüler individuelle Aufgaben für ihr nächstes Treffen ¬- viele kleine Schritte also, bei denen sie die Schüler geduldig begleitet. Gegen 11 Uhr verlassen wir die Schule und tauschen uns auf der Autofahrt zurück zum Campus über die Geschichten der Schüler aus. Für Stepec ist diese Vielfalt Alltag, ich habe kaum Kontakt zu Schülern. Mich überrascht, wie früh beispielsweise Sabah lernen musste, auf eigenen Beinen zu stehen.
Nach einer kurzen Kaffeepause mit Projektkoordinatorin Julia Zielberg in ihrem Büro im Studierenden-Service-Center (SSC) treffen wir um 12 Uhr in der Kaffeebar Jule Rönitz, eine engagierte Bauingenieurwesen-Studentin. Sie bietet uns an, einem von Stepecs Schülern in den Ferien den Campus zu zeigen und ihn mit in ihre Vorlesungen zu nehmen. Stepec wird Jules Kontaktdaten an den Schüler weiterleiten, damit er sich bei ihr melden kann. Denn, auch das habe ich heute gelernt: Ein Talentscout ermuntert Jugendliche, serviert aber keine fertigen Lösungen.
Finanzielle Unterstützung für engagierte Talente
Gegen 14 Uhr sind wir zurück im SSC. Dort treffe ich auf die vier anderen Talentscouts der RUB und weitere Talente. Mit einigen Schülern unterhalte ich mich länger: David erzählt mir, dass er zu einem Auswahlgespräch für ein Schülerstipendium eingeladen ist. Stepec hatte ihn ermuntert, sich dafür zu bewerben: „Keiner meiner Freunde bekommt ein Stipendium. Ohne Miras Anstoß hätte ich mich nie dafür beworben. Dabei war der Prozess ganz einfach“, sagt David.
Personal Coach für Schüler
Mein Tag als Talentscout endet gegen 17 Uhr, die Talente und Scouts machen jetzt noch eine Stadtführung durch Bochum. Ich selber fühle mich erschlagen von den vielen Geschichten, die ich heute gehört habe. Alle Schüler, mit denen ich heute gesprochen habe, würden vermutlich nie sagen, dass sie ein Talent haben. Dabei meistern sie alle ihr Leben unter den gegebenen Umständen hervorragend: Sie sind Experten im Zeit- und Organisationsmanagement, Improvisationskünstler und Überlebenskämpfer. Der Job der Scouts ist es, so einfach es sich auch anhört, an ihrer Seite zu sein. Sie sind die Personal-Coachs der Talente, hören zu, ermuntern und zeigen einen Weg auf – gehen müssen die Talente ihn dann alleine.
Das nordrhein-westfälische Ministerium für Innovation, Wissenschaft und Forschung stellt für das Programm Talentscouting bis 2020 jährlich über 6,4 Millionen Euro zur Verfügung. Aktuell beteiligen sich 14 NRW-Hochschulen, ihre Arbeit wird koordiniert vom NRW-Zentrum für Talentförderung. Allein an der RUB sind fünf Scouts beschäftigt.
24. Januar 2017
09.56 Uhr