Ruhrdeutsch „Wat hasse gesacht?“

Wenn man sich „einmuckeln“ möchte, weil das Wetter so „usselig“ ist, und man „rammdösig“ wird, weil die Nachbarskinder den ganzen Tag „am bölken sind“, gibt es keinen Zweifel mehr: Dann ist man mitten im Ruhrgebiet.

Das Ruhrdeutsch, das die Menschen im Ruhgebiet sprechen, unterscheidet sich nicht nur im Wortschatz vom Hochdeutschen, auch Aussprache und Satzbau weisen Besonderheiten auf. Doch wie hat sich die Sprache im Ruhrgebiet im Laufe der vergangenen 30 Jahre verändert? Gab es durch den sozialen Wandel auch einen Sprachwandel? Diesen Fragen gehen Linguisten der RUB auf den Grund.

Der Startschuss für dieses umfangreiche Projekt fiel schon in den 1980er-Jahren: Zwei Feldforscher der RUB zeichneten damals Gespräche mit Kleingärtnern im gesamten Ruhrgebiet auf. Dies waren weniger Interviews als lockere Plaudereien – ungezwungen und authentisch. Es ging um Laubeneinbrüche, um Schädlingsbekämpfungsmittel, kurz: um emotional besetzte Themen, bei denen die Kleingärtner so richtig in Fahrt gerieten.

Falsche Vorurteile

Das Ziel des damaligen Projekts an der RUB: „das Ruhrdeutsche aus der Schmuddelecke zu holen“, erklärt die Linguistin Dr. Kerstin Kucharczik, die das KGSR-Projekt (Korpus der gesprochenen Sprache des Ruhrgebiets) heute leitet. Vor dem Ersten Weltkrieg zogen viele Migranten von Osteuropa in das Ruhrgebiet. „Daraus entstand das falsche Vorurteil, dass das Polnische und das Schlesische das Ruhrdeutsche verformt hätten“, so Kucharczik. So wie die Menschen im Ruhrgebiet der Migration kritisch gegenüberstanden, so lehnten sie auch das sogenannte „Pollacken-Deutsch“ ab. Erst durch die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Thema konnte nachgewiesen werden, dass andere Sprachen kaum Einfluss auf das Ruhrdeutsche hatten.

Der Einfluss des Niederdeutschen

„Ich geh’ mit die Oma in die Stadt“ – da, wo man eigentlich den Dativ erwartet, hört man im Ruhrdeutschen häufig den Akkusativ. „Ein ganz klassischer Fall“, sagt Kerstin Kucharczik. Lange Zeit dachte man, dass diese Kasusvertauschung durch den Einfluss anderer Sprachen zustande gekommen sei.

Das Gegenteil bewiesen die inzwischen emeritierten Linguistik-Professoren Arend Mihm (Universität Duisburg-Essen) und Heinz H. Menge (RUB, Mitinitiator des KGSR-Projekts): Laut ihrer Untersuchungen lässt sich die Kasusvertauschung auf den Einfluss des Niederdeutschen (Plattdeutsch) zurückführen, das die Unterscheidung zwischen Akkusativ und Dativ gar nicht kennt – der Linguist spricht hier von Substraterscheinung. Demnach sollen die Menschen an der Ruhr noch um 1900 herum Plattdeutsch gesprochen haben; mit der Zeit wurde es durch das immer wichtiger werdende Hochdeutsche abgelöst.

Was am Ende im Ruhrdeutschen vom Niederdeutschen übrig blieb, ist die Kasusvertauschung in Sätzen wie „Gib mich mal die Hand“. Das Vorurteil, dass das Ruhrdeutsche ein Konglomerat aus den verschiedenen Sprachen der Arbeitsimmigranten sei, konnten Menge und Mihm so widerlegen. Die Einflüsse zum Beispiel des Polnischen oder des Tschechischen auf die gesprochene Sprache im Ruhrgebiet schätzen die beiden Linguisten sogar als sehr gering ein.

Auf Basis der Interviews mit den Kleingärtnern entstanden so diverse wissenschaftliche Publikationen, danach gerieten die Aufnahmen allerdings in Vergessenheit. Unter anderem auch, weil die Tonbänder nur analog vorlagen und in dieser Form irgendwann nicht mehr verwendet werden konnten. „Das ist viel zu schade“, dachte sich Kerstin Kucharczik, als sie vor 16 Jahren an die RUB kam. Schade vor allem deswegen, weil keine der anderen großen Universitäten im Ruhrgebiet über ein zugängliches Korpus – also eine Sammlung von Texten oder Tondokumenten – zum Ruhrdeutschen verfügt.

Also belebte Kucharczik das Projekt nicht nur neu, sondern stellte es auch auf neue Füße: Zunächst sollten die analogen Tonaufnahmen digitalisiert werden, um sie zu erhalten und in der Lehre einzusetzen. Als zusätzliche Herausforderung sollten neue Aufnahmen entstehen, um das Ruhrdeutsche von heute mit dem von damals zu vergleichen.

Projektleiterin Kerstin Kucharczik zeigt die Original-Tonbänder aus den 1980er-Jahren, die in einem Schrank im Germanistischen Institut lagern. © RUB, Nelle

Nach der Digitalisierung der 120 Stunden Tonmaterial, die anderthalb Jahre in Anspruch nahm, stand aber zunächst die Transkription im Mittelpunkt. Ein Gesprächsverlauf wird hierbei haargenau zu Papier gebracht und bietet so die Grundlage für eine exakte Analyse. Um solch ein Gespräch übersichtlich und lesbar zu transkribieren, benutzen Linguisten die sogenannte Partiturschreibung.

Wir wollten noch genauer die Spezifika des Ruhrdeutschen beschreiben.


Kerstin Kucharczik

Zwar existierten bereits vereinzelt Transkripte der Tonaufnahmen aus den 1980er-Jahren, diese reichten für die aktuelle Analyse aber nicht aus: „Wir wollten noch genauer die Spezifika des Ruhrdeutschen beschreiben“, sagt Kerstin Kucharczik. Das Problem: In den geläufigen Transkriptionsverfahren, die sich am Standarddeutschen orientieren, fehlten die adäquaten Darstellungsmittel. Wie soll man aber ein sprachliches Phänomen wie das ruhrdeutsche „scho’ma’“ (hochdeutsch „schon mal“) transkribieren, wenn es dafür kein passendes Zeichen gibt?

Sich dieser Problematik bewusst, entwickelte das KGSR-Projektteam eigene Transkriptionskonventionen, die sich an etablierten Verfahren orientieren, diese aber noch erweitern: Sie setzen genau fest, welches Zeichen verwendet wird, wenn die Aussprache im Ruhrdeutschen von der standarddeutschen Aussprache abweicht. Um beispielsweise das Zusammenziehen zweier Wörter (Kontraktion) zu markieren, schlagen die KGSR-Konventionen ein Gleichheitszeichen vor: Das gesprochene „scho’ ma’“ wird so in der Transkription als „scho=ma“ notiert.

Ein Gespräch wird in der Partiturschreibung untereinander in Zeilen notiert. Für jeden Sprecher werden zwei Transkriptionsspuren angelegt: eng und weit. Die enge Transkriptionsspur gibt die sprachlichen Besonderheiten wieder, die weite übersetzt sie in unsere gewohnte Schreibsprache. In der Kommentarzeile vermerkt der Transkribent, was sich neben dem gesprochenen Wort abspielt, zum Beispiel wenn jemand hustet. Es gibt eine Reihe von standardisierten Zeichen, die zum Einsatz kommen: Das Zeichen (...) signalisiert beispielsweise, dass das Gesprochene an dieser Stelle nicht verstehbar ist. © Designagentur diezwei

Die KGSR-Konventionen beleuchten die Phonetik – also den Klang – des Ruhrdeutschen in einer Genauigkeit, die bislang einmalig ist – somit bieten sie all denjenigen eine wichtige Grundlage, die sich wissenschaftlich mit dem Ruhrdeutschen beschäftigen möchten. Wer eine Hausarbeit zu dem Thema schreibt, kann seit April 2012 zudem in der Universitätsbibliothek der RUB auf das komplette Korpus aus den 1980er-Jahren samt Transkripten zugreifen. Von den 120 Stunden Tonmaterial hat das KGSR-Projektteam etwa ein Prozent transkribiert. Klingt wenig, es steckt aber viel Arbeit dahinter: Um eine Minute Tonmaterial zu verschriftlichen, benötigt man zwischen 100 und 150 Minuten Zeit.

Arbeiten mit dem Korpus

Seit April 2012 verwaltet die Universitätsbibliothek der RUB (UB) das Alt-Korpus. Wer mit ihm arbeiten möchte, muss vorab eine Lizenzbedingung unterschreiben, in der er versichert, dass er die digitalisierten Tondokumente zu rein wissenschaftlichen Zwecken nutzt und nicht an Dritte weitergibt. Danach schaltet die UB den Zugang zum Korpus frei – das gesamte Tonmaterial und die bislang vorhandenen Transkriptionen können dann heruntergeladen werden.

Diese kleine Hürde musste das KGSR-Projektteam einbauen, da es von den meisten Probanden keine Erlaubnis hat, die Tondokumente frei im Internet verfügbar zu machen. Zwar hatten alle in den 1980er-Jahren eingewilligt, dass ihre Gespräche wissenschaftlich verwendet werden dürfen, das bedeutete damals aber höchstens, dass Gesprächsausschnitte anonymisiert in wissenschaftlichen Publikationen erschienen. Heute bedeutet die Arbeit mit dem Korpus vor allem, es der wissenschaftlichen Öffentlichkeit zugänglich zu machen – die Tonaufnahmen also online zur Verfügung zu stellen.

„Das ist ein ganz heißes Eisen“, sagt Kerstin Kucharczik. Insbesondere weil in den Tondokumenten auch sensible Themen angeschnitten werden, hatte die Projektgruppe Zweifel, ob man die Daten frei zugänglich ins Internet stellen sollte. Zwar hatte man versucht, Probanden von damals zu kontaktieren und ihre Erlaubnis einzuholen, war aber nur in drei Fällen erfolgreich. Häufig lebten die Probanden nicht mehr oder waren dement. Was also tun? Die Projektgruppe holte sich Rat beim Institut für Deutsche Sprache in Mannheim (IDS), das Erfahrungen mit großen Korpora hat. Die IDS-Mitarbeiter halfen den RUB-Kollegen, eine Lizenz zu entwerfen, die einen freien Zugriff auf die Tondokumente verhindert. „Diese Lizenz schützt die Probanden und uns – so ist das Ganze verantwortbar“, sagt Kerstin Kucharczik.

Stoff für Hausarbeiten bietet das Ruhrdeutsche genug. Gibt es doch neben der eigenwilligen Aussprache („Hömma, wat soll dat?“) auch einige sogenannte Sonderlexeme, bei denen „Nicht-Muttersprachler“ nur mit den Achseln zucken können: zum Beispiel „niggelig“ (hochdeutsch „neugierig“), „usselig“ („dreckig“, „ungepflegt“) oder „ösig“ („schlecht gelaunt“). Ganz typisch für die Umgangssprache im Ruhrgebiet ist auf Ebene der Grammatik zum Beispiel der sogenannte am-Progressiv: „Ich bin am arbeiten“ anstatt „ich arbeite“. Fragen für eine wissenschaftliche Arbeit drängen sich da nahezu auf: Gibt es ähnliche Phänomene in anderen Regiolekten, zum Beispiel im Rheinischen? Woher kommt ein Wort wie „ösig“? Mit welchen Verben tritt der am-Progressiv auf? Das Korpus bietet hier eine wertvolle Forschungsgrundlage.

Der Fokus des KGSR-Projekts liegt momentan vor allem darauf, ein Neu-Korpus zu erstellen, das man mit den Tonaufnahmen aus den 1980er-Jahren (Alt-Korpus) vergleichen kann. Dazu geht es wieder an die Hecken und Zäune: Im Sommer 2012 werden zwei wissenschaftliche Hilfskräfte erneut Interviews in den Schrebergärten des Ruhrgebiets durchführen.

Um Vergleichbarkeit zu gewährleisten, werden sie versuchen, dieselben Themen wie in den 1980er-Jahren anzuschneiden. Eins wird sich aber ändern: Auch Frauen kommen dieses Mal ans Mikro. Wieso das in den 1980er-Jahren nicht geschehen ist? „Die haben lieber ihre Männer vorgeschickt – die heutige Situation wird sicherlich eine andere sein“, sagt Kerstin Kucharczik. Und das auch in anderen Punkten: Zum Beispiel erwartet die Projektgruppe, dass mittlerweile mehr Personen mit Migrationshintergrund in den Gartenanlagen zu finden sind.

Bei den Interviews ist es wichtig, dass ein intimer Rahmen geschaffen wird: In ihren Lauben und Gärten fühlen sich die Kleingärtner zu Hause und reden deswegen offener. © RUB, Nelle

Auf Grundlage der Interviews möchte das Projektteam eine Reihe von Fragen beantworten: Wie haben sich Wortschatz, Aussprache und Grammatik des Ruhrdeutschen im Vergleich zu den 1980er-Jahren verändert, gibt es neue Einflüsse durch andere Sprachen, zum Beispiel Türkisch? Kurz: Hat der soziale Wandel auch einen Sprachwandel nach sich gezogen? Von den Aufnahmen über die Transkription bis zum Abschlussbericht kalkuliert Kerstin Kucharczik eine Dauer von mehreren Jahren ein. Ob dafür Drittmittelgelder fließen, ist noch nicht klar – bislang haben alle Beteiligten unentgeltlich am Projekt mitgewirkt.

Unveröffentlicht

Von

Maren Volkmann

Dieser Artikel ist am 20. März 2012 in Rubin Frühjahr 2012 erschienen. Die gesamte Ausgabe können Sie hier als PDF kostenlos downloaden. Weitere Rubin-Artikel sind hier zu finden.

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