ADHS Manche Kinder leiden doppelt und dreifach

Forscher an der Universitätsklinik Hamm beschäftigen sich intensiv mit der Aufmerksamkeitsstörung ADHS. Bei einer Studie wurden Zusammenhänge zu anderen chronischen Erkrankungen bei Kindern sichtbar.

„Ihr Kind hat ADHS.“ Wenn Eltern diese Diagnose hören, fallen die Reaktionen ganz unterschiedlich aus. Die einen sind erleichtert. Endlich haben sie eine Erklärung für das auffällige Verhalten ihres Kindes. Wissen nun, woran sie sind und schöpfen Hoffnung, dass sich die Situation durch geeignete Therapiemaßnahmen verbessern lässt. Die anderen jedoch befürchten eine Stigmatisierung ihres Sohnes oder ihrer Tochter. Wie werden die Lehrer reagieren? Sollen wir die Diagnose lieber für uns behalten?

Körperliche Unruhe und eine starke Impulsivität sind Symptome der ADHS. Die Kinder werden von ihrem Umfeld oft als Zappelphilippe wahrgenommen. © Roberto Schirdewahn

Prof. Dr. Martin Holtmann und Prof. Dr. Tanja Legenbauer kennen die Hoffnungen und Befürchtungen der Familien sehr gut. Rund 500 Kinder und Jugendliche mit ADHS, der Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitätsstörung, behandeln der Kinderpsychiater und die Psychologin jedes Jahr in der Universitätsklinik des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe (LWL) in Hamm. Die Kinder- und Jugendpsychiatrie ist eine der größten ihrer Art in Deutschland und gehört zum Klinikverbund der Ruhr-Universität Bochum. Neben ADHS werden hier auch alle anderen Arten von psychischen Störungen bei Jungen und Mädchen behandelt.

Die Kinder- und Jugendpsychiatrie in Hamm © Roberto Schirdewahn

Die meisten Familien, die sich wegen ADHS an Legenbauer und Holtmann wenden, haben bereits eine Diagnose von ihrem Kinderarzt oder ihrer Kinderärztin erhalten und möchten in der Klinik eine zweite Meinung einholen. „Es ist aufwendig, solch eine Diagnose zu stellen“, erklärt Tanja Legenbauer. „Es reicht nicht, sich nur das Kind anzuschauen. Aufmerksamkeitsprobleme oder Unruhe können auch ganz andere Ursachen als ADHS haben.“ Daher sei es wichtig, auch mit den Lehrern oder Erziehern zu sprechen und sich das Kind in verschiedenen Situationen anzusehen, bevor man die Diagnose abgibt. Dazu hätten allerdings die wenigsten Kinderärzte genug Zeit.

Nicht nur die klinische Arbeit beschäftigt die beiden RUB-Wissenschaftler, sondern auch die Forschung rund um ADHS. Daher haben sie zum Beispiel zwischen Ende 2013 und Ende 2016 an dem vom nordrhein-westfälischen Ministerium für Innovation, Wissenschaft und Forschung geförderten Projekt „Neue Volkskrankheiten im Kinder- und Jugendalter“ (Niki) teilgenommen. Kinderärzte und Kinderpsychiater aus vier verschiedenen Kliniken im Ruhrgebiet waren daran beteiligt. Gemeinsam sind sie der Frage nachgegangen, ob und wie die drei Erkrankungen Adipositas, ADHS und Allergien, speziell Neurodermitis und Asthma, zusammenhängen.

Krankheitsursachen

Als Ursache für die Aufmerksamkeitsstörung werden vor allem genetische Faktoren angeführt, sie tritt in den betroffenen Familien also über die Generationen immer wieder auf. Aus neurobiologischen Untersuchungen weiß man, dass bei den Patienten der Stoffwechsel von Botenstoffen im Gehirn gestört ist. Bestimmte Hirnfunktionen laufen daher anders ab als bei gesunden Kindern.

Mindestens 25 Prozent aller Kinder und Jugendlichen in Deutschland sind inzwischen von mindestens einem dieser chronischen Leiden betroffen. Häufig treten jedoch auch zwei oder drei von ihnen gleichzeitig bei einem Kind auf. Die Gesamtauswertung des Projekts, die zentral vom Netzwerk für Gesundheitswirtschaft „Medecon Ruhr“ vorgenommen wird, stand bei Redaktionsschluss noch aus. Doch die Ergebnisse, die Tanja Legenbauer und Martin Holtmann hinsichtlich ADHS gewinnen konnten, lassen bereits einige Rückschlüsse zu.

Martin Holtmann ist Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie- und psychotherapie und außerdem Ärztlicher Direktor der Universitätsklinik Hamm. © Roberto Schirdewahn

Die Studienteilnehmer, die nach Hamm kamen – sechs- bis zwölfjährige Kinder, die in erster Linie einen Verdacht auf ADHS hatten – wurden einer eingehenden Diagnostik unterzogen. Dazu gehörten neben den klassischen Anamnesegesprächen und den Gesprächen mit Lehrern und Erziehern auch verschiedene Fragebögen, die zum Beispiel die Lebensbedingungen des Kindes oder auch die gesundheitsbezogene Lebensqualität abfragten.

Die Ärzte untersuchten zudem das Blut der Patienten und führten Experimente durch, um messen zu können, wie impulsiv die Kinder sind. „Impulsivität bedeutet, dass man nicht so gut nachdenkt, bevor man handelt. ADHS-Kinder sind tendenziell impulsiver als andere Kinder. Dadurch wirken sie manchmal tollpatschig und verletzen sich auch häufiger“, erklärt Martin Holtmann, warum gerade dieser Aspekt die Wissenschaftler interessierte.

Die Mär vom spindeldürren Zappelphilipp

Bei einem dieser Tests handelt es sich um das in den 1970er-Jahren entwickelte und schon vielfach in anderen Zusammenhängen angewandte Marshmallow-Experiment: Ein Kind wird vor die Wahl gestellt, ob es eine kleine Menge Süßigkeiten sofort essen will oder diese lieber nicht antastet und nach einer gewissen Zeit des Wartens eine größere Portion bekommt.

Den ADHS-Patienten fiel es schwer abzuwarten. Und hier sieht Holtmann durchaus einen Zusammenhang zu einer der anderen in der Gesamtstudie untersuchten Krankheiten, der Adipositas, also Dickleibigkeit: „Jemand, der gut abwarten kann, kann sich gut regulieren“, so der Kinderpsychiater. „Wir wissen, dass Kinder, die das nicht gut können, auch beim Essen häufig nicht das richtige Maß finden und mehr essen als nötig.“

Das Marshmallow-Experiment lässt sich auch mit allen anderen Süßigkeiten durchführen. Wie lange schafft es das Kind, der Versuchung zu widerstehen? © Roberto Schirdewahn

Tatsächlich zeigen die Daten, dass die Kinder, die unter ADHS leiden, keineswegs die spindeldürren Zappelphilippe sind, wie man sie sich landläufig vorstellt. Im Schnitt wiegen sie mehr als gleichaltrige gesunde Kinder. Den Zusammenhang zwischen der Aufmerksamkeitsstörung und der Dickleibigkeit wollen die Hammer in Zukunft noch mit weiteren Patienten genauer untersuchen.

Im Rahmen der Studie sind die Wissenschaftler auch einer anderen Hypothese nachgegangen: Es scheint, dass Patienten aus allen drei Gruppen im Durchschnitt schlechter schlafen als normal. Das kann bedeuten, dass sie schlechter einschlafen oder auch, dass sie nachts immer wieder aufwachen und die Gesamtschlaflänge dadurch vermindert ist.

Legenbauer und Holtmann wollten es genau wissen und analysierten daher einen zusätzlichen und noch größeren Datensatz im Hinblick auf diese Forschungsfrage. Dabei handelt es sich um Daten aus der „Studie zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland“ (Kiggs), die seit 2003 vom Robert-Koch-Institut als Langzeitstudie durchgeführt wird.

Tanja Legenbauer ist Psychotherapeutin und leitet an der Universitätsklinik Hamm die Abteilung für Forschung und Testdiagnostik. © Roberto Schirdewahn

Die Auswertung zeigte, dass das Schlafverhalten der Kinder sowohl dann schlechter war, wenn sie ausschließlich an ADHS erkrankt waren, als auch dann, wenn sie zusätzlich eine Adipositas oder eine Neurodermitis hatten. Bei Letzterer scheint die Erklärung, warum die Kinder weniger Schlaf bekommen, am einfachsten: Der Juckreiz weckt sie auf.

Bei Adipositas und ADHS können die Wissenschaftler bisher nur Vermutungen anstellen: „Allgemein schlafen psychisch belastete Kinder schlechter“, sagt Tanja Legenbauer. „Was von beidem Ursache und was Auswirkung ist, ist aber unklar. Wer psychischen Stress hat, schaltet wahrscheinlich auch nachts schlechter ab, das kennt man ja auch selbst. Und wer schlecht geschlafen hat, merkt das auch tagsüber und ist dann unkonzentrierter. Beides verstärkt sich gegenseitig.“

Außerdem wolle jemand, der schlecht geschlafen hat, tagsüber eher seine Ruhe haben, als sich sportlich zu betätigen, was wiederum Übergewicht verstärken könnte. Und: Wer abends länger aufbleibt, hat auch mehr Gelegenheiten zu essen und tappt so in die Kalorienfalle.

ADHS ist keine Erfindung der Pharmaindustrie.


Martin Holtmann

Martin Holtmann sieht in der Niki-Studie eine echte Chance und auch eine zukunftsträchtige Herangehensweise: „Das Projekt hat unseren Blick dafür geschärft, dass es viele Kinder gibt, die mehrfach belastet sind. Wir wollen in Zukunft unsere Patienten ganzheitlich betrachten und auch Krankheiten, wegen derer die Patienten vielleicht bei anderen Fachärzten in Behandlung sind, stärker berücksichtigen.“

Im Zusammenhang mit ADHS ist ihm vor allem wichtig, eines klarzustellen: „ADHS ist eine echte Erkrankung und keinesfalls eine Erfindung der Pharmaindustrie oder ein Vorwand von Eltern, die mit ihrem Kind schlecht zurechtkommen“, so der Kinderpsychiater. Anders als die anderen beiden untersuchten Krankheiten sei bei ADHS auch keine Zunahme in der Bevölkerung zu beobachten. „Kinder mit ADHS gab es schon immer. Früher gab es einfach noch keine passende Diagnose, und daher war die Krankheit nicht so präsent wie heute.“

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Unveröffentlicht

Von

Raffaela Römer

Dieser Artikel ist am 2. Mai 2017 in Rubin 1/2017 erschienen. Die gesamte Ausgabe können Sie hier als PDF kostenlos downloaden. Weitere Rubin-Artikel sind hier zu finden.

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