Astrophysik Mit dem Eiswürfel ins ferne Weltall schauen

Die kosmische Strahlung durchdringt uns unaufhörlich. Wo sie herkommt, ist unklar.

Unsichtbar für das menschliche Auge regnet jeden Tag ein wahrer Teilchenschauer aus dem Weltall auf die Erde herab. Elektrisch neutrale Elementarteilchen – Neutrinos genannt – fliegen dabei meist durch unseren Planeten hindurch, als wäre er gar nicht da. Knapp zehn Billionen von ihnen passieren unbemerkt jede Sekunde unseren Daumen. Welche Objekte im All dieses harmlose Bombardement aussenden, ist jedoch unklar. 

Das möchte das Team um Prof. Dr. Julia Becker am Lehrstuhl für Theoretische Physik IV ändern. Gemeinsam mit vielen internationalen Partnern wollen die Forscherinnen und Forscher klären, was die Quelle der kosmischen Strahlung ist. Diese besteht aus geladenen Teilchen – Elektronen, Protonen und anderen Atomkernen –, die sich mit großer Geschwindigkeit durchs All bewegen.

„Anders als Licht lassen sich die geladenen Teilchen der kosmischen Strahlung durch Magnetfelder ablenken“, sagt Becker. „Sie fliegen nicht geradeaus zur Erde. Also wissen wir nicht, wo sie herkommen.“ Dort wo kosmische Strahlung entsteht, bilden sich jedoch auch Neutrinos – ungeladene Teilchen, die nicht von Magnetfeldern vom Weg abgebracht werden. Wer also die Quelle der Neutrinos findet, kennt auch den Ursprung der kosmischen Strahlung. Schlüssel zum Erfolg ist der größte Eiswürfel der Welt.

Riesiger Detektor

Im Rahmen des Projekts „Ice Cube“ entstand am Südpol der größte Neutrinodetektor der Erde. In einem Kubikkilometer Eis versenkten Forscher 86 Kabelstränge, die Daten aus bis zu 2,5 Kilometern Tiefe an die Oberfläche senden. An jedem Kabelstrang befestigten sie 60 Kugeln, die Licht detektieren und verstärken.

Der Detektor erstreckt sich etwa 2,8 Kilometer tief ins Eis. An 86 Kabelsträngen sind über 5.000 kugelförmige Photomultiplier befestigt, die die Lichtkegel der Myonen detektieren und verstärken. Der tiefe Detektorkern ist auf Teilchen mit niedriger Energie spezialisiert. Über die Kabel gelangen die gemessenen Signale zum Ice-Cube-Labor an der Oberfläche © NSF, Danielle Vevea/Jamie Yang

Wenn ein Neutrino mit einem Atomkern im Eis wechselwirkt, bildet sich ein Myon – ein Elementarteilchen, das in die gleiche Richtung weiterfliegt, wie das Neutrino es getan hätte. Das Myon zieht einen schwachen, aber großen Lichtkegel im blauen bis ultravioletten Bereich hinter sich her. Die Ice-Cube-Glaskugeln, die in einem dreidimensionalen Gitter angeordnet sind, messen Intensität und Ankunftszeit des Lichts. Jeder Lichtkegel trifft viele Kugeln; aus den Daten aller Kugeln lässt sich seine Richtung rekonstruieren und somit auch die Richtung, aus der das Neutrino auf die Erde traf.

Neutrinos hinterlassen Spuren im Eis. Die gestrichelten weißen Linien zeigen die IceCube-Kabelstränge mit den Detektorkugeln. Farbig dargestellt ist der Lichtkegel eines Myons. Rot repräsentiert eine frühe Ankunftszeit, blau eine späte. Die Größe der farbigen Kugeln stellt die Intensität des detektierten Lichts dar. © University of Wisconsin-Madison, NSF, icecube.wisc.edu

„Der Lichtkegel kann 500 bis 800 Meter breit sein, aber leuchtet nur einige Nanosekunden“, erzählt RUB-Physiker Jens Dreyer, der ein Jahr lang am Südpol die Messungen von Ice Cube überwachte. „Das ist ein kurzer, sehr schwacher Lichtpuls aus einer Handvoll Photonen. Deswegen ist es wichtig, dass wir den Detektor tief unten im Eis haben. Dort ist es dunkel und das Licht der Sonne stört nicht.“

Kompliziert wird die Messung durch die Tatsache, dass Neutrinos auch in der Erdatmosphäre erzeugt werden. „Die wollen wir aber nicht haben, also müssen wir sie wegsortieren“, erklärt Becker. „Es ist generell möglich, aus 100 detektierten Neutrinos die drei herauszufischen, die nicht in der Atmosphäre entstanden sind.“

Denn Neutrinos, die den fernen Quellen der kosmischen Strahlung entstammen, haben im Schnitt höhere Energien als solche, die in der Erdatmosphäre entstehen. Ice Cube ist daher auf hochenergetische Teilchen spezialisiert. Je höher die Energie eines Neutrinos und des daraus entstehenden Myons ist, desto größer ist der Lichtkegel, der dem Myon folgt. Da die Abstände zwischen den einzelnen Lichtverstärkern von Ice Cube sehr groß sind, nimmt der Detektor kleine Lichtkegel von niederenergetischen Teilchen nicht wahr. Theoretische Modelle, die Beckers Team entwickelt, helfen außerdem, die Himmelsrichtung einzugrenzen, in der die Forscher nach Neutrinoquellen suchen.

Von zehn Milliarden atmosphärischen Neutrinos wechselwirken gerade mal 100.


Julia Becker

Bei dieser Suche kommt es auf jedes Teilchen an. Denn die Forscher können nur solche Neutrinos aufspüren, die im Eis wechselwirken – und das sind nur wenige. „Von zehn Milliarden atmosphärischen Neutrinos wechselwirken gerade mal 100“, verdeutlicht Becker. Der Rest fliegt einfach unverändert weiter.

Ice Cube und das Leben am Pol

Die University of Wisconsin in Madison entwickelte das 295 Millionen Dollar schwere Ice-Cube-Projekt. Gefördert wird es durch die amerikanische Wissenschaftsstiftung NSF, kofinanziert von mehreren europäischen Universitäten. Die Bauarbeiten starteten 2004; sechs Jahre später war der Detektor fertig. Er soll mindestens zehn Jahre laufen. Etwa 50 Stunden dauert es, mit heißem Wasser das Loch für einen Kabelstrang zu bohren und diesen mit Kugeln zu versenken. Gebaut werden konnte nur, wenn es hell war – und das ist am Südpol gerade mal vier Monate im Jahr der Fall.

Jens Dreyer war dabei, als die letzten Teile des Detektors im Eis verschwanden. 13 Monate verbrachte er im Forschungscamp „Amundsen Scott“ bei Tiefsttemperaturen bis zu minus 75 Grad Celsius. Er erinnert sich gern an die monatelange Dunkelheit: „Die Auroras waren sehr faszinierend. Ich fand es eigentlich schade, als es wieder hell wurde.“

Über Langeweile konnte er auch nicht klagen: „Wir hatten zum Beispiel einen Billardtisch, einen Fitnessraum und Unmengen von Kostümen. Aus irgendeinem Grund verkleidet man sich am Südpol für alle möglichen Ereignisse.“ Obwohl von Februar bis Oktober keine Versorgungsflugzeuge kamen, war auch am Essen nichts auszusetzen: „Einmal gab es sogar Erdbeeren aus dem Gewächshaus – allerdings waren sie sehr klein und jeder bekam nur eine.“ Mehr über das Leben am Südpol gibt es in Jens Dreyers Blog zu lesen: hunnenhorst.wordpress.com

Ende dieses Jahres erwarten die Physiker den ersten vollständigen Ice-Cube-Datensatz, aber auch jetzt laufen schon Analysen. Als Quelle für die kosmische Strahlung hatten sie die sogenannten Gamma Ray Bursts unter Verdacht – Energieausbrüche, die auf sehr schwere explodierende Sterne zurückgehen. Becker erläutert: „Gamma Ray Bursts sind leicht mit Ice Cube zu analysieren, da man sie 10 bis 100 Sekunden lang am Himmel sieht. Man weiß also, in welchem Zeitfenster man wo suchen muss.“

Da wird man schon nervös.


Jens Dreyer

Da Ice Cube 24 Stunden am Tag alle Himmelsrichtungen überwacht, verpasst der Detektor prinzipiell nichts. Jens Dreyer erinnert sich jedoch an seine ersten Tage am Südpol: „Zwei Stunden nachdem unsere Vorgänger abgeflogen waren, hatten wir Probleme mit einem Netzwerkswitch. Der Detektor lief neun Stunden lang nicht. Da wird man schon nervös.“

Ice Cube hat den Rundumblick

Da Neutrinos durch die Erde hindurchfliegen können, empfängt Ice Cube Daten aus 360 Grad. „Allerdings sehen wir die Nordhalbkugel besser als den Süden“, erzählt Becker, was zunächst paradox klingt. Myonen entstehen nicht nur durch Neutrinos im Eis, sondern auch, wenn die kosmische Strahlung mit der Erdatmosphäre wechselwirkt. Diese atmosphärischen Myonen stören die Suche nach Neutrinoquellen im fernen All. Myonen, die in der nördlichen Atmosphäre entstehen, werden jedoch – anders als Neutrinos – von der Erde abgefangen, während Myonen aus der südlichen Atmosphäre mehr oder weniger ungehindert den Detektor treffen.

Beckers Team macht sich die atmosphärischen Myonen zunutze: Sie entstehen durch Wechselwirkung mit der kosmischen Strahlung und spiegeln deshalb deren Verteilung über der Südhalbkugel wider. Da die kosmische Strahlung die Erde nicht auf geradem Weg erreicht, hilft das zwar nicht, ihre Quelle zu entschlüsseln. Aber die Analyse belegt ein anderes Phänomen: Die kosmische Strahlung ist nicht gleich verteilt. Beckers Theorie: „Wenn es eine Strömung im lokalen Plasma des Universums gibt, die zum Beispiel von alten Supernova-Resten übrig geblieben ist, dann treffen aus Richtung der Strömung mehr Teilchen auf die Erde als aus der entgegengesetzten Richtung.“

Die bisherigen Ergebnisse verraten zwar noch nicht, wo die kosmische Strahlung herkommt. Aber sie deuten darauf hin, welche Himmelsobjekte nicht ihre Verursacher sind. „Wir können die Gamma Ray Bursts noch nicht ganz ausschließen, aber es spricht einiges dagegen, dass sie die Quellen sind“, resümiert Becker. Falls sich das Ergebnis bestätigt, haben die Physiker schon die nächsten Kandidaten auf der Liste: Aktive Galaxien, die große Materieströme aus dem Zentrum herausschleudern, könnten die kosmische Strahlung erzeugen.

Unveröffentlicht

Von

Julia Weiler

Dieser Artikel ist am 20. März 2012 in Rubin Frühjahr 2012 erschienen. Die gesamte Ausgabe können Sie hier als PDF kostenlos downloaden. Weitere Rubin-Artikel sind hier zu finden.

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