Interview Luther, der starrsinnige Radikale
Historikerin Maren Lorenz über einen widersprüchlichen Charakter, die Aufwertung der Sexualität und göttliche Wahrheiten.
Was verbinden Sie mit Martin Luther?
Starken Willen und großen Mut, aber auch einen sehr ambivalenten Charakter. Die Kehrseite zeigte sich in recht unchristlicher Unversöhnlichkeit und Hass gegenüber Personen oder auch Gruppen und trug wohl erheblich zur ursprünglich nicht intendierten Spaltung der Kirche und schnellen Zersplitterung der Reformationsbewegung selbst bei. Es bedurfte aber sicher genau so eines starrsinnigen Radikalen, um die massive Korruption und die Doppelmoral der verkrusteten Kirchenstrukturen ernsthaft zu bedrohen.
Was war Ihrer Meinung nach die bedeutendste Folge der Reformation, die unsere Gesellschaft heute noch prägt?
Ich würde hier zwei nennen: zum einen die Aufwertung der Sexualität als etwas, das Gott dem Menschen als Teil seiner Natur mitgegeben hat. Sie bleibt außerhalb der Ehe zwar sündig, ist damit aber nur Teil des gesamten Sündenpakets, das jeder Mensch zeitlebens mit sich trägt, und wird darum nicht per se verteufelt. Zum zweiten Luthers wenigstens theoretisch konsequente Kritik an institutioneller Macht, die damit auch wissenschaftliche Denkverbote unterläuft. Seine Reaktion auf die Bauernkriege zeigt allerdings die Ambivalenz seiner Zwei-Regimente-Lehre, also die Trennung von religiöser und weltlicher Herrschaft. So forderte er vehement die Todesstrafe für alle, die unter Berufung auf christliche Brüderlichkeit gegen steuerlichen Missbrauch und die wachsende Unfreiheit in der Ständegesellschaft aufbegehrten.
Was glauben Sie, wie sich die christliche Kirche in Zukunft verändern wird?
Das wird mit davon abhängen, wie stark sich global evangelikale und traditionalistische Strömungen aller Konfessionen entwickeln. Verunsicherte Menschen und Menschen, die sich um ihre Teilhabe am Diesseits betrogen sehen, tendieren zur ideologischen oder religiösen Radikalisierung. Unhistorisch als göttliche Wahrheit verstandene Texte werden als klare Antworten auf unklare Zeiten verstanden. Letztlich war das auch Luthers Erfolgsrezept und Legitimation. Auch er ließ nur die biblischen Worte als Maßstab allen Handels gelten.