Um die Gründe für die Fehlfaltung von Proteinen zu entschlüsseln, braucht es verschiedene wissenschaftliche Ansätze. Die Expertise der Dortmunder und Bochumer Forscher ergänzt sich perfekt.
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Lebende Zellen Chemie auf engem Raum

Platz ist in Zellen Mangelware. Die Moleküle sind dicht an dicht gedrängt. Beeinflusst das ihre Funktion? Und müssen Experimente diesen Einfluss berücksichtigen?

Proteine bestehen aus Hunderten von Aminosäuren. Damit sie ihre Funktion ausüben können, müssen sie nicht nur die richtige Sequenz von Aminosäuren enthalten, sondern auch in die richtige 3D-Struktur gefaltet sein. Fehler in der räumlichen Anordnung können verheerende Konsequenzen haben. So sind Fehlfaltungen von Proteinen vermutlich die Ursache für neurodegenerative Erkrankungen wie Chorea Huntington, die Alzheimer- oder die Parkinson-Krankheit. Problematisch ist in diesen Fällen, dass die falsch gefalteten Proteine verklumpen und toxische Ablagerungen bilden.

Obwohl die Theorie zum Entstehen der oben genannten Krankheiten schon lange existiert, ist bislang kein Gegenmittel gefunden. Noch sind die Prozesse, die zu den Protein-Verklumpungen führen, zu wenig verstanden. Die dahintersteckenden Mechanismen interessieren die Teams von Prof. Dr. Simon Ebbinghaus an der Ruhr-Universität Bochum und Prof. Dr. Roland Winter an der Technischen Universität Dortmund. Ihr Ansatz: Sie beobachten die beteiligten Proteine nicht – wie üblich – nur in einer wässrigen Lösung, sondern auch in der lebenden Zelle.

Man muss es sich vorstellen wie in einem Aufzug.


Simon Ebbinghaus

Bis zu 40 Prozent des Volumens einer Zelle bestehen aus Biomolekülen. Die Zellflüssigkeit ist also alles andere als eine verdünnte Lösung, sie hat eine zähflüssige Konsistenz. Durch die Enge in der Zelle nehmen die Proteine andere Konformationen ein, als wenn sie unbedrängt wären. „Man muss es sich vorstellen wie in einem Aufzug oder einer Bahn voller Menschen“, veranschaulicht Simon Ebbinghaus vom Bochumer Lehrstuhl für Physikalische Chemie II. „Wenn es voll ist, legen wir die Arme an den Körper an und versuchen, möglichst wenig Platz einzunehmen. So ähnlich machen das die Proteine auch.“

Wie dieser sogenannte Crowding-Effekt die Faltung und Fehlfaltung von Proteinen beeinflusst, möchten die Dortmunder und Bochumer Forscher herausfinden. Sie kooperieren im Exzellenzcluster „Ruhr explores Solvation“ (Resolv), das die Rolle des Lösungsmittels in chemischen und biochemischen Reaktionen in den Fokus nimmt.

Für diese Forschung braucht es innovative Verfahren. Selbst einfache Zellen enthalten schon 4.000 verschiedene Proteine. Methodisch ist es also eine Herausforderung, in dieser komplexen Umgebung ein bestimmtes Molekül zu untersuchen. Ein Ansatz ist, das Zielprotein in wässriger Lösung im Reagenzglas zu analysieren und weitere Bestandteile, die in lebenden Zellen vorkommen, hinzuzugeben – sogenannte Crowder. Aber stellt das ausreichend die Bedingungen in lebenden Organismen nach? Dieser Frage gingen die Resolv-Forscher nach.

Neue Technik für lebende Zellen

Während seiner Postdoktorandenzeit in den USA entwickelte Simon Ebbinghaus eine Technik, mit der sich die Faltungsprozesse einzelner Proteine direkt in lebenden Zellen verfolgen lassen. Der Trick: Mit Laserpulsen werden kleine Temperatursprünge ausgelöst, die zwar den Zellen nichts ausmachen, aber die Moleküle im Inneren aufschmelzen. Das Protein gibt seine räumliche Anordnung auf, sodass eine entfaltete Aminosäurekette vorliegt.

Normalerweise würde sich beim Erhitzen die räumliche Struktur aller in der Zelle enthaltenen Proteine auflösen. Die Forscher wollen aber nur eine bestimmte Sorte von Proteinen entfalten. Dafür müssen sie diese vorbehandeln. Sie sorgen dafür, dass die eine Proteinsorte etwas instabiler ist als die übrigen Moleküle in der Zelle, sich also bei niedrigeren Temperaturen entfaltet.

Simon Ebbinghaus hat eine Methode entwickelt, mit der sich die Faltung von Proteinen in lebenden Zellen verfolgen lässt.
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Simon Ebbinghaus hat eine Methode entwickelt, mit der sich die Faltung von Proteinen in lebenden Zellen verfolgen lässt. Mit der Expertise der Dortmunder Kollegen lassen sich die Daten interpretieren.

Um den Entfaltungsvorgang messen zu können, bringen die Chemiker an beiden Enden der Aminosäurekette des Zielproteins eine Farbmarkierung an. Mit ihrer Hilfe können sie in der Zelle verfolgen, wie das Protein seine räumliche Struktur ändert. Die Methode liefert aber kein Video der Molekülveränderungen, sondern abstrakte Daten, die interpretiert werden müssen. Das gelingt nur, wenn man ganz genau weiß, wie ein Protein unter kontrollierten Bedingungen auf bestimmte Einflüsse reagiert. Die Wissenschaftler müssen also Studien im Reagenzglas zum Vergleich heranziehen. Auf diesem Gebiet hat das Team von Roland Winter am Dortmunder Lehrstuhl für Physikalische Chemie I langjährige Expertise. In vielen Studien haben die Forscher untersucht, wie sich verschiedene Substanzen auf den Faltungsprozess von Proteinen auswirken.

Summe aller Moleküle ist entscheidend

In einer gemeinsamen Arbeit nahmen die Dortmunder und Bochumer Gruppen zum Beispiel ein Molekül namens Insel-Amyloid-Polypeptid in den Fokus, das bei Typ-2-Diabetes eine Rolle spielt. Wie Proteine bestehen Peptide aus Aminosäureketten, die eine dreidimensionale Struktur annehmen. Bei Diabetes-Patienten wurden Ablagerungen von falsch gefalteten Insel-Amyloid-Polypeptiden beobachtet.

Doktorandin Mimi Gao untersuchte zusammen mit ihren Kolleginnen und Kollegen, wie bestimmte Biomoleküle die Bildung dieser Ablagerungen beeinflussen. Das Team testete eine ganze Reihe von Substanzen, die in lebenden Zellen vorkommen. Etwa Salze, kleine lösliche Moleküle, Faltungshelferproteine, auch Chaperone genannt, oder Crowder, die die Enge in lebenden Zellen nachstellen sollen. Die Haupterkenntnis war: Es reicht nicht, die Effekte einzelner Substanzen zu betrachten, denn sie wechselwirken miteinander. Crowder wirken in Anwesenheit von Chaperonen zum Beispiel anders als allein. Die Summe aller Moleküle in der Zelle reguliert also den Faltungsprozess.

Simon Ebbinghaus (links) und Roland Winter (rechts) kooperieren im Exzellenzcluster „Ruhr explores Solvation“.
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Die Bedingungen in einer lebenden Zelle im Reagenzglas nachzustellen ist aber nahezu unmöglich. Zwar wird in manchen Studien versucht, das Gedränge in der Zelle mithilfe von künstlichen Zusätzen im Reagenzglas zu imitieren – aber spiegelt das die realistischen Bedingungen wider? Dieser Frage widmeten sich die Resolv-Wissenschaftler in einer weiteren Studie. Sie verglichen das Verhalten einer RNA-Struktur in der lebenden Zelle und im Reagenzglas mit und ohne künstliche Zusätze. Das verwendete Molekül hatte eine haarnadelförmige Struktur, die bei hohen Temperaturen aufschmilzt. Die Forscher untersuchten, wie sich die RNA-Stabilität in den verschiedenen Szenarien und bei verschiedenen Temperaturen veränderte.

Studien mit lebenden Zellen sind nicht zu ersetzen

Zu ihrer Überraschung verhielt sich die RNA-Haarnadel in wässriger Lösung ohne Zusätze ähnlich wie in der lebenden Zelle. Im Reagenzglas mit Zusätzen – was den natürlichen Bedingungen eigentlich näherkommen sollte – verhielt sie sich hingegen deutlich anders. Wer Proteinfaltung und -fehlfaltung wirklich verstehen will, kommt also letztendlich nicht um Studien in lebenden Zellen herum. Für deren Interpretation aber sind zusätzliche Analysen unter kontrollierten Bedingungen unerlässlich.

Mit dieser Kombination von Methoden möchte das Resolv-Team nun Schritt für Schritt weitere Moleküle und Szenarien untersuchen. Die Gruppen von Simon Ebbinghaus und Roland Winter interessieren sich nicht nur dafür, wie sich biologische Prozesse in Zelle und Reagenzglas unterscheiden. Sie wollen auch herausfinden, wie sich die Faltung von Proteinen unter extremen Bedingungen verändert, etwa bei sehr hohem Druck. Oder wie sich die Prozesse verändern, wenn die Zelle unter Stress gerät, beziehungsweise welche Strategien die Zelle entwickelt, um dem Stress zu begegnen. Dabei haben sie immer das Ziel vor Augen, neue Erkenntnisse über die Fehlfaltung krankhafter Proteine zu gewinnen.

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Unveröffentlicht

Von

Julia Weiler

Dieser Artikel ist am 2. November 2017 in Rubin 2/2017 erschienen. Die gesamte Ausgabe können Sie hier als PDF kostenlos downloaden. Weitere Rubin-Artikel sind hier zu finden.

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