Geschichtsdidaktik Überfordert im virtuellen Stasigefängnis
Warum man beim virtuellen Eintauchen in vergangene Zeiten das Auftauchen nicht vergessen sollte.
Bitte einsteigen zu einer Straßenbahnfahrt im Köln des Jahres 1907! Der Wagen schaukelt, der Fahrtwind bläst ins Gesicht, rundherum spielen sich Szenen auf der Straße ab, die die Fahrgäste dank Virtual-Reality-Brille nach Belieben betrachten können. Ein tolles Erlebnis, das Touristen in Köln seit Kurzem geboten wird. Wie der resultierende Erkenntnisgewinn aus der Fahrt aussieht, ist unwichtig – es geht vor allem um das schöne Erlebnis, vermeintlich in eine ferne Zeit eingetaucht zu sein.
Zehn Minunten in der Haut eines Häftlings
Angebote dieser Art werden immer häufiger, auch in Museen und Gedenkstätten – und warum nicht auch im Geschichtsunterricht in der Schule darauf zurückgreifen und Geschichte so attraktiver machen?
„Solche Angebote haben sicher ein großes Potenzial“, sagt Prof. Dr. Christian Bunnenberg, Geschichtsdidaktiker an der RUB. „Aber sie bergen auch Herausforderungen.“ Der Forscher weiß zum Beispiel um ein Angebot der Gedenkstätte Hohenschönhausen. Hier, wo sich früher ein Gefängnis der Staatssicherheit der DDR befand, können Besucher für zehn Minuten in die Haut eines Häftlings schlüpfen, die Aufnahme, den Alltag und Verhörsituationen am eigenen Leib erfahren. Da die virtuelle Reise am Originalschauplatz und basierend auf echten Vernehmungsprotokollen stattfindet, preisen die Macher die Authentizität und kündigen das Ganze als „besonderes Geschichtserlebnis“ an. Darin sieht Bunnenberg mehrere Schwierigkeiten.
„Zum einen sieht man den Teilnehmerinnen und Teilnehmern deutlich ihre emotionale Überforderung an“, berichtet er (siehe Film zur Eröffnung). „Die Art der Ansprache durch die Schauspieler in diesem 360-Grad-Film ist so schneidend, dass ich selbst hin und wieder die Brille abgenommen habe, weil es mir zu viel wurde.“
Diese Art der Präsentation lasse jegliche Distanz vermissen. „Man setzt auf ästhetisch-emotionale Überwältigung und löst diese auch nicht auf“, bemängelt Christian Bunnenberg. Dabei hätte es genügt, wenn die Schauspieler zum Schluss ihre Uniform ablegen und damit zum Ausdruck bringen würden: Sie sind Schauspieler im Jahr 2017. Unterm Strich: Es geht bei dem Produkt nur ums Eintauchen in den Film – das Auftauchen bleibt außen vor.
Bunnenberg sieht dieses Vorgehen im Widerspruch zum sogenannten Beutelsbacher Konsens: Als Ergebnis einer Tagung im Jahr 1976 verständigte man sich für die politische Bildung auf drei Prinzipien für den Schulunterricht: Schülerorientierung, ein Überwältigungsverbot und Kontroversität.
Verteufeln will ich diese virtuellen Angebote auf keinen Fall.
Christian Bunnenberg
„Der Geschichtsunterricht muss auf der einen Seite Kompetenzen vermitteln, die Vergangenheit aus – meist schriftlichen – Quellen zu rekonstruieren und dabei bewusst machen, dass immer nur eine Annäherung möglich ist“, unterstreicht der Forscher. „Man sollte dabei möglichst viele Perspektiven wählen und in der Eigenlogik ihrer Zeit verstehen. Auf der anderen Seite müssen aber auch Kompetenzen für den Umgang mit Darstellungen von Vergangenheit – Historienromanen, Spielfilmen, Computerspielen oder eben Virtual-Reality-Angeboten – erworben werden, die eine Dekonstruktion dieser Erzählungen ermöglicht.“ Diese Kompetenzen sollten idealerweise auch in den durchschnittlich 60 Jahren nach dem Schulabschluss Menschen in die Lage versetzen, virtuelle Geschichtsreisen zwar zu genießen, sich aber danach zu fragen: Was habe ich hier gerade gesehen? Eben kein Abbild der Vergangenheit.
„Verteufeln will ich diese virtuellen Angebote auf keinen Fall“, sagt Bunnenberg. Ihm geht es darum, herauszufinden, wie sich solche Filme sinnvoll im Geschichtsunterricht nutzen lassen. Wie kann man Erleben mit Erkenntnis in Einklang bringen? Die Schülerinnen und Schüler weder emotional überfordern noch kognitiv?
Möglichkeiten, virtuelle Angebote im Unterricht zu nutzen
Bei seiner Suche nach weiteren Beispielen für die Nutzung virtueller Techniken im Bildungsbereich stieß Bunnenberg auf einen Rundgang durch die Vorgeschichte Zürichs. Bei Bauarbeiten waren dort Überreste von Pfahlbauten entdeckt worden. Nach der digitalen Rekonstruktion der ursprünglichen Ansiedlung können Interessierte sie am Computer oder per Virtual-Reality-Brille besichtigen. Allerdings tauchen sie nicht völlig ein, sondern werden von der Stimme eines Fremdenführers aus dem Off begleitet, der so für die nötige Distanz sorgt. Bei verschiedenen Tagungen mit Fachkollegen und im Studiengang Public History sucht Bunnenberg nach weiteren Möglichkeiten, virtuelle Angebote für den Geschichtsunterricht oder das Lernen an nicht-schulischen Orten zu nutzen.
„Wichtig ist: Geschichtsunterricht muss den Konstruktcharakter von Geschichte offenlegen“, so Bunnenberg. „Geschichte ist ein zeit- und perspektivgebundenes Reden über die Vergangenheit.“