Interview Wie wir die Welt sehen
Wahrnehmungen sind unser Fenster zur Welt. Doch wie entstehen sie?
Ist etwas wahrzunehmen im Kern dasselbe wie ein Foto von der Umgebung zu machen? Oder konstruieren unsere Gehirne uns eine Welt, wie sie uns gefällt? In einer jetzt startenden Vortragsreihe im Blue Square geben Philosophen, Psychologen und Neurowissenschaftler Antworten auf diese Fragen.
Den Auftakt macht am Dienstag, 1. Oktober 2019, 18 Uhr, Prof. Dr. Albert Newen. Der Philosoph erklärt den Zuhörern, wie wir andere Menschen wahrnehmen und verstehen und warum Vorurteile nicht nur schlecht, sondern oftmals hilfreich sind.
Ein paar seiner Gedanken zu dem Thema verrät er hier im Interview.
Herr Newen, können wir einen anderen Menschen eigentlich objektiv wahrnehmen?
Diese Frage kann man auf zwei Weisen verstehen. Zum einen kann sie bedeuten: Was ist der Inhalt meiner Wahrnehmung, wenn ich einen Menschen anschaue? Sehe ich nur Farben, Formen und Materialien, die sich in einer bestimmten Weise zusammenfügen, und folgere daraus, dass dort ein Mensch steht? Oder sehe ich direkt den Menschen? Letzteres ist die übliche Meinung, die auch ich theoretisch für richtig halte.
Die andere Möglichkeit, die Frage zu verstehen, ist: Wenn ich den Menschen direkt sehe, kann ich ihn dann objektiv sehen oder immer nur subjektiv gefärbt? Es gibt viele Eigenschaften, die wir objektiv wahrnehmen können, zum Beispiel die Körpergröße und die Kleidung. Dabei meint objektiv, dass diese Eigenschaften von allen Menschen gleich wahrgenommen werden können, denn das Wahrnehmungssystem vom Auge bis zum Gehirn ist bei allen Menschen sehr gleichartig aufgebaut, unabhängig von Hintergrundwissen und Kulturen.
Größenwahrnehmung ist zwar relativ zum Betrachter und dessen Perspektive und Abstand, aber für alle mit gleichen Bedingungen kann die Wahrnehmung im Prinzip gleich sein. Sobald allerdings spezifisches Hintergrundwissen erlernt wird, kann dies unsere Wahrnehmung beeinflussen, insbesondere dann, wenn die Wahrnehmungsbedingungen nicht optimal sind: Wenn jemand nur unklare Sicht hat oder nur ganz kurz schauen kann, weil er als US-Polizist sofort entscheiden muss, ob die Person gefährlich ist, dann wird ein dunkles klobiges Objekt in der Hand eines Schwarzen häufiger als Waffe gesehen als in der Hand eines Weißen, auch wenn es nur ein Locher ist. Hier kommen subjektive von Hintergrundannahmen und Vorurteilen geprägte Wahrnehmungen ins Spiel.
Wie formt sich unser Bild von einem anderen Menschen beim ersten Kontakt?
Wir aktivieren in weniger als 100 Millisekunden ein ganzes Bündel von Informationen, wenn wir einen Menschen sehen. Auf der Basis von Merkmalen wie Geschlecht, Alter, Ethnie, aber auch Kleidung, Körperhaltung und mehr sehen wir den Menschen zum Beispiel als Studierenden und verknüpfen mit dieser Person unmittelbar viele wichtige Eigenschaften, zum Beispiel, ob sie vertrauenswürdig ist.
Warum ist es für uns Menschen bedeutsam, eine präzise Vorstellung vom Wesen eines anderen zu haben?
Menschen sind hypersoziale Wesen, die andere Menschen brauchen, zugleich gehen heute aber auch die größten Bedrohungen für uns Menschen von anderen Menschen aus. Dies bezeugen Gewalt und Konflikte in Familien bis hin zu Weltkriegen. Daher müssen wir sehr schnell und genau erfassen, ob die Person, der ich begegne, friedlich gestimmt, vertrauenswürdig und hilfsbereit ist oder eher jeweils das Gegenteil.
In der gegenwärtigen Welt mit ausgeprägter Arbeitsteilung benötigen wir noch viel spezifischere Einschätzungen. Im Berufsleben sollte man erfassen, für welche Aufgabe ein Mensch gut geeignet ist, damit er seine Aufgabe gut und zufrieden erledigen kann; im privaten Bereich ist es noch wichtiger, die Personen in der eigenen Umgebung adäquat einzuschätzen, um Enttäuschungen zu vermeiden. Hier sind Personenmodelle zentral, die wir uns von einzelnen, aber auch von Gruppen wie Medizinern, Rechtsanwälten und anderen machen. Auf diesem Hintergrund wird unsere Wahrnehmung von Personen vorgeprägt: Wir sehen die Welt oft, wie wir sie erwarten und nicht wie sie ist.