Wo ein Organismus anfängt und wo er aufhört, ist nicht immer leicht zu sagen. Flechten beispielsweise bilden symbiotische Kollektive aus mehreren Individuen. © Roberto Schirdewahn

Philosophie Die Rückkehr des Organismus

Die Entschlüsselung des Genoms versprach bahnbrechende Erkenntnisse über den Menschen. Die Erkenntnis bestand aber auch darin, dass ein Lebewesen mehr ist als die Summe seiner Gene.

Als in den 1990er-Jahren das Humangenomprojekt ins Leben gerufen wurde, wähnten manche ein umfassendes Verständnis des Menschen und seiner Funktionsweise nahe. „Früher haben wir gedacht, unser Schicksal stünde in den Sternen. Heute wissen wir, es liegt in unseren Genen“, hatte James Watson, einer der Entdecker der Erbstruktur, gesagt. Doch so einfach ist es nicht. Seit der Entschlüsselung des Erbguts ist bekannt, dass der Mensch 20.000 bis 25.000 Gene besitzt – viel weniger als erwartet und etwa genauso viele wie eine Maus. Zweifelsohne hat das Humangenomprojekt interessante und hilfreiche Erkenntnisse geliefert. „Aber heute haben wir auch verstanden, dass die Gene nicht alles sein können, was den Menschen biologisch ausmacht“, sagt Prof. Dr. Jan Baedke, Philosoph und Wissenschaftstheoretiker an der RUB. Bestimmte Entwicklungsphasen und Umwelteinflüsse entscheiden, ob und wann Gene abgelesen oder ausgeschaltet werden, und können bleibende Spuren im Körper hinterlassen, die in manchen Fällen über Generationen hinweg weitergegeben werden.

Was ein Individuum ausmacht

Im Kontext dieser Erkenntnis hat sich in den Biowissenschaften, zumindest in einigen Teilbereichen, der Fokus vom Gen wieder auf den gesamten Organismus verschoben. Aber zu definieren, was eigentlich ein Organismus ist und wie er sich von anderen Organismen oder seiner Umwelt abgrenzen lässt, ist nicht trivial. „Intuitiv denkt man vielleicht, die Haut ist die Außengrenze des Körpers“, gibt Baedke ein Beispiel. „Aber was ist mit den Billionen von Mikroorganismen, die auf und in uns leben, etwa unsere Darmflora? Müssen wir Mensch und Mikroorganismen als getrennte Organismen oder als eine Einheit – ein einziges biologisches Individuum – begreifen?“

Die Haut des Menschen ist von rund 1.000 verschiedenen Spezies von Mikroorganismen besiedelt. Man kann diskutieren, ob man sie als Teil des Menschen oder als eigenständigen Organismus betrachten sollte. © Roberto Schirdewahn

Die Emmy-Noether-Gruppe „Die Rückkehr des Organismus“, die Jan Baedke leitet, denkt derzeit über sinnvolle Kriterien für biologische Individualität nach. Ein Individuum könnte man etwa als Reproduktionseinheit verstehen; nach solch einer Definition wäre das Mikrobiom, also die Gesamtheit aller Mikroorganismen, kein Teil des menschlichen Organismus, denn es besteht aus zig verschiedenen Abstammungs- und Vererbungslinien, die von der des Menschen unabhängig sind. Alternativ wäre es denkbar, den Organismus als evolutionäre Einheit zu verstehen, die gemeinsam selektiert wird, also gemeinsam im Lauf der Zeit evolviert. Der Organismus könnte aber auch als die Einheit begriffen werden, die sich gemeinsam in der Lebensspanne eines Individuums entwickelt. Oder als immunologische Einheit, die ein gemeinsames Immunsystem ausbildet.

Diese und weitere Definitionen wägt Jan Baedke mit seinem Team ab. Sein Ziel ist es, ein tragfähiges Konzept des biologischen Individuums zu entwickeln, das es erlaubt, Organismen gleichsam als Entwicklungs- und Evolutionseinheiten eindeutig zu identifizieren. Das wird allerdings nicht einfach werden: „Andere Forscher konzentrieren sich üblicherweise nicht auf ein Kriterium, sondern wählen etwa die wichtigsten zehn Kriterien aus, um möglichst viele Spezies abzudecken“, weiß Baedke. „Aber auch mit diesem Ansatz gibt es immer Ausnahmefälle, bei denen Individuen nur schwer identifiziert werden können.“ Sein Ansatz ist daher, sich auf zentrale Entwicklungs- und Evolutionsprozesse von Individuen zu konzentrieren, solche, die auch für den Menschen relevant sind.

Für viele Methoden in der Biologie ist es wichtig zu wissen, wo Innen und Außen eines Organismus ist.


Jan Baedke

„Im ersten Moment klingt das vielleicht sehr theoretisch“, gibt Jan Baedke zu. „Aber für viele Methoden in der Biologie ist es wichtig zu wissen, wo Innen und Außen eines Organismus ist.“ Ein Beispiel: Die Populationsgenetik befasst sich mit den Dynamiken etwa in einer Tierpopulation, der damit zusammenhängenden Überlebens- und Reproduktionswahrscheinlichkeit einzelner Individuen sowie der Größe und räumlichen Verbreitung der Population. „Die Modelle zur Bestimmung dieser Dynamiken setzten allerdings voraus, dass man einzelne Individuen dieser Gruppe zählen und voneinander unterscheiden kann, etwa, dass ein Organismus der Elterngeneration und ein anderer der Nachkommengeneration angehört. Ohne ein eindeutiges Konzept des biologischen Individuums geht dies nicht“, veranschaulicht Baedke.

Unsere Mikroben – ein Teil von uns?

Definitionen von Individualität sind auch für die aktuelle Diskussion um den Holobionten wichtig, also die weiter oben erwähnte Frage, ob der Mensch und die Gesamtheit der in und auf ihm lebenden Mikroben als Einheit zu betrachten sind. Eine lange vorherrschende Sichtweise in den Biowissenschaften besagt, dass alles, was in der Entwicklung eines Individuums, also in seinem individuellen Leben, passiert, nicht vererbt wird. Neue entwicklungsbiologische Ansätze machen hier jedoch eine Differenzierung notwendig: Neben der genetischen Vererbung scheint es eine Reihe von Vererbungspfaden zu geben, auf denen Informationen etwa über Umweltbedingungen, Stressoren und Nahrungsgewohnheiten weitergegeben werden.

Eine Kolonie von Escherichia-coli-Bakterien, wie sie auch in der Darmflora des Menschen vorkommt. Von wie vielen Organismen sollte man hier sprechen? Bilden Mensch und Darmflora einen gemeinsamen Organismus oder zwei verschiedene? © Christine Kaimer, LS Biologie der Mikroorganismen

Beim Menschen überträgt beispielsweise die Mutter auf verschiedene Weisen, etwa über ein charakteristisches vaginales Mikrobiom, Informationen an die nächste Generation – Informationen, die zum Beispiel entscheidend zur Ausbildung des Immunsystems des Kindes sind. „Um diese neuen Ansätze theoretisch zu stärken, brauchen wir eine überzeugende Argumentation, wie die Entwicklung und Evolution von Individuen zusammenwirken“, sagt Jan Baedke.

Einige Biowissenschaftlerinnen und -wissenschaftler stehen der Zusammenarbeit mit der Philosophie sehr offen gegenüber.


Jan Baedke

Um die dafür erforderlichen Konzepte und theoretischen Bezugsysteme aufzustellen, kooperiert der Bochumer Philosoph mit experimentell arbeitenden Biowissenschaftlern. Die interdisziplinäre Zusammenarbeit hält er seit vielen Jahren für gewinnbringend. Er bekommt detaillierte Einblicke, was Biologen unter dem Begriff „Organismus“ oder „biologisches Individuum“ verstehen, warum sie das Konzept für nützlich halten und welche offenen Fragen es gibt. „In einigen Bereichen der Biologie gibt es Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die der Zusammenarbeit mit der Philosophie sehr offen gegenüberstehen“, berichtet Jan Baedke. „Angesichts äußerst komplexer Phänomene besteht der Wunsch nach Systematisierung. Hier kann ich meine analytische Expertise aus der Wissenschaftstheorie einbringen.“

Dabei geht es, wie schon erwähnt, nicht nur darum, aus Ordnungsliebe System in ein Begriffswirrwarr zu bringen. Die Frage, ob Menschen und Mikroben als eine Einheit, etwa als Holobiont, aufgefasst werden sollten, hat beispielsweise pharmakologische Implikationen. Wen adressiert man mit der Gabe eines Medikaments? Die Mikroben, den menschlichen Körper oder beide zusammen? Noch komplizierter wird es bei einer schwangeren Frau, in der drei potenziell unterschiedliche Einheiten – Mutter, Fötus und Mikrobiom – wechselwirken. Welche Kriterien biologischer Individualität legitimieren es, eine einzelne dieser Einheiten zu behandeln, und welche machen es notwendig, das Kollektiv zu adressieren?

Organismen und Umwelt

Und das ist noch nicht alles: Organismen existieren nicht isoliert, sondern im Zusammenspiel mit ihrer Umwelt, die sie formen und die sie formt. „Es existieren derzeit gegensätzliche theoretische Strömungen in der Biologie, die entweder das Individuum als kausale Handlungsinstanz hervorheben oder es in komplexe Umweltkontexte und symbiotische Beziehungen zu anderen Organismen einbetten“, beschreibt Baedke. „Mit Blick auf den Menschen hat das Auswirkungen darauf, wie wir unsere Beziehung zur Umwelt begreifen und welche Verantwortungen wir übernehmen, etwa gegenüber unseren Krankheiten und denen unserer Kinder.“ Vor diesem Hintergrund nimmt etwa die personalisierte Medizin stark das Individuum in den Blick und entwickelt gezielte Handlungsempfehlungen für einzelne Personen. Zusätzlich gibt es eine wachsende Anzahl von Ratgeberliteratur zum individuellen Umgang mit Stress oder zur Ernährung.

Jan Baedke arbeitet an der Schnittstelle von Philosophie und Biowissenschaften. © Roberto Schirdewahn

„Es ist beispielsweise bekannt, dass das metabolische Syndrom, das mit Adipositas einhergeht, mit bestimmten Lebens- und  Ernährungsgewohnheiten korreliert und transgenerationale Folgen hat“, so Baedke. „Sollte man in diesem Fall also das menschliche Individuum als alleinigen Verantwortungsträger ausweisen?“ Hier werden aktuell insbesondere schwangere Frauen in den Blick genommen, die mit ihrem Ernährungsverhalten potenziell das Wohlbefinden des Kindes beeinflussen. „Man sieht derzeit, dass diese Debatte zu weit getrieben werden kann“, erklärt der Wissenschaftler. „Diese Individuen – Mütter – werden fälschlicherweise nicht nur als alleinige Verantwortungsträger ausgewiesen, ihnen wird auch zunehmend die Schuld für eine bestimmte Krankheitsanfälligkeit ihrer Kinder gegeben.“

Fremdbestimmung oder Eigenverantwortung

Wer hingegen die starke Umweltabhängigkeit und symbiotische Beziehungen des biologischen Individuums in Kollektiven betont, betrachtet den Menschen als eingewoben in seinen sozialen Kontext sowie in materielle Gegebenheiten und Umweltbedingungen. Treibt man diese Perspektive wiederum zu weit, ist Fremdbestimmung statt Eigenverantwortung das Resultat. „Neuere epidemiologische Studien versuchen etwa nachzuweisen, dass, wenn man in Armut groß wird, dies den Einzelnen nicht nur sozial prägt. Vielmehr schreibt es sich auch in den Körper ein“, veranschaulicht Jan Baedke. „Sie argumentieren, dass man solche ‚kollektiven Nischen‘ nicht nur sozial, sondern auch biologisch verstehen muss, denn sie können zu einem erhöhten Risiko für bestimmte Krankheiten führen.“

Ob das Kollektiv oder das Individuum in den Fokus gerückt wird, hat außerdem politische Konsequenzen. Baedke: „Ein starker Fokus auf das Individuum kann eine Legitimation für die Gesundheitspolitik sein, sich zurückzulehnen – denn jeder trägt ja für sich selbst Verantwortung.“ Mit seiner Gruppe will er in den kommenden Jahren nicht nur Definitionen für den Organismusbegriff erarbeiten und diese historisch einordnen, sondern auch ein Bewusstsein für die sozialen und anthropologischen Konsequenzen verschiedener Auffassungen biologischer Individualität schaffen.

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Veröffentlicht

Mittwoch
19. Februar 2020
08:26 Uhr

Dieser Artikel ist am 4. Mai 2020 in Rubin 1/2020 erschienen. Die gesamte Ausgabe können Sie hier als PDF kostenlos downloaden. Weitere Rubin-Artikel sind hier zu finden.

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