Dr. Andrea Kießling forscht am RUB-Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Sozial- und Gesundheitsrecht und Rechtsphilosophie.
© Damian Gorczany

Kommentar Infektionsschutzrecht in Zeiten von Corona

Veranstaltungsverbote, Schulschließungen, Ausgangssperre. Die Bochumer Forscherin Andrea Kießling nimmt die Infektionsschutzmaßnahmen aus juristischer Perspektive unter die Lupe.

Jahrhundertelang standen Prävention und Infektionsschutz und nicht die Heilung im Fokus des öffentlichen Gesundheitswesens. Seit jedoch Pest und Cholera durch die Entwicklung von Arzneimitteln in Europa keine Rolle mehr spielen, hat der Großteil der deutschen Bevölkerung keine Berührungspunkte mehr mit dem Infektionsschutz und dem Gesundheitsamt. Schutzimpfungen lässt man von der Kinderärztin oder dem Hausarzt durchführen, das Gesundheitsamt kennt man nur von der Schuleingangsuntersuchung aus der Kindheit.

Maßnahmen der Gesundheitsämter betreffen alle

Das änderte sich schlagartig mit dem Auftreten des Coronavirus. Mittlerweile wird täglich von der Arbeit der Gesundheitsämter berichtet, was die Frage nach deren Befugnissen aufwirft. Diese Befugnisse sind im Infektionsschutzgesetz (IfSG) geregelt, dessen Zweck es ist, übertragbaren Krankheiten beim Menschen vorzubeugen, Infektionen frühzeitig zu erkennen und ihre Weiterverbreitung zu verhindern. Es enthält zunächst Vorschriften zur „Überwachung“; durch die Pflicht zur Meldung bestimmter Krankheiten, die unter anderem Ärzte, aber auch Gemeinschaftseinrichtungen trifft, behält der Staat den Überblick über den Verlauf der Corona-Epidemie.

Darüber hinaus regelt das IfSG Maßnahmen zur „Verhütung übertragbarer Krankheiten“ und Maßnahmen zur „Bekämpfung übertragbarer Krankheiten“, die die Ordnungsbehörden auf Vorschlag der Gesundheitsämter anordnen. In der Situation, in der wir uns aktuell befinden, geht es um die Bekämpfung einer bereits ausgebrochenen übertragbaren Krankheit, früher auch Seuche genannt. Hier ermöglicht das IfSG unter anderem die Anordnung von Quarantäne und berufliche Tätigkeitsverbote jeweils für Erkrankte, aber auch für Personen, die sich nur angesteckt haben könnten. Nachdem im Februar und Anfang März die Anordnung häuslicher Quarantäne einzelner Personen mit einem konkreten Corona-Bezug im Vordergrund stand, wurden vergangene Woche schließlich auch zunächst Großveranstaltungen mit mehr als 1.000 Teilnehmern und später auch kleinere Veranstaltungen verboten und die Kitas und Schulen bis zum Ablauf der Osterferien geschlossen.

Entschädigungen für Veranstaltungsverbote?

Diese Anordnungen konnte nicht zentral der Bund treffen. Das IfSG ist zwar ein Bundesgesetz, es wird aber durch die Länder ausgeführt. Die Veranstaltungsverbote konnte der Bundesgesundheitsminister deswegen nur nachdrücklich empfehlen. Gestritten wurde auf Landesebene noch zum Teil darum, ob diese Verbote durch das Land selbst oder durch die zuständigen kommunalen Behörden ausgesprochen werden sollten – beides ist nach dem IfSG grundsätzlich möglich. Städte wie Düsseldorf weigerten sich zunächst, Veranstaltungsverbote zu erlassen, weil sie das Haftungsrisiko fürchteten (das die das Verbot anordnende Behörde trägt), bis das Land sie per Erlass dazu zwang. Ob Veranstaltern jedoch überhaupt ein Entschädigungsanspruch für rechtmäßige Verbote zusteht, ist nicht bis ins Letzte geklärt; die Rechtswissenschaft tendiert momentan eher dazu, diese Frage zu verneinen.

Auch Ausgangssperren zulässig?

Die Haftungsfrage ist diese Woche in den Hintergrund getreten. Wenn man sich überlegt, dass noch vor zehn Tagen Schulschließungen und Veranstaltungsverbote in weiter Ferne schienen und man mit Erstaunen auf Italien blickte, wo diese bereits Anfang März angeordnet wurden, stellt sich nun – nach noch weitergehenden Maßnahmen wie der Schließung von Spielplätzen und Geschäften – die Frage, ob auch in Deutschland letztlich eine allgemeine Ausgangssperre rechtlich zulässig wäre, wie sie zuletzt in Frankreich verhängt wurde.

Das IfSG regelt nicht alle denkbaren Maßnahmen ausdrücklich – es enthält vielmehr eine Regelung, die es den zuständigen Behörden erlaubt, „die notwendigen Schutzmaßnahmen“ zu treffen, „soweit und solange es zur Verhinderung der Verbreitung übertragbarer Krankheiten erforderlich ist“. So eine offene Bestimmung wird als „Generalklausel“ bezeichnet. Sie stellt eine Rechtsgrundlage für die Behörden dar, die die Maßnahmen, die erlaubt sind, nicht näher eingrenzt oder beschreibt, sondern nur die Voraussetzungen regelt. Im Gefahrenabwehrrecht – zu dem das Infektionsschutzrecht gehört – sind Generalklauseln üblich, damit die Behörden flexibel auf unerwartete Situation reagieren können. Maßnahmen, die hierauf gestützt werden, müssen jedoch – wie alle staatlichen Maßnahmen unabhängig vom verfolgten Zweck – immer verhältnismäßig sein. Die Schwere einer Maßnahme wird hierbei in Relation zu ihrem Zweck gesetzt – je näher deswegen das deutsche Gesundheitssystem vor dem Zusammenbruch steht, desto eher sind auch sehr einschneidende Maßnahmen wie Ausgangssperren denkbar. Grundsätzlich ausgeschlossen werden sie vom IfSG jedenfalls nicht.

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Veröffentlicht

Donnerstag
19. März 2020
12:59 Uhr

Von

Andrea Kießling

Dieser Artikel ist am 4. Mai 2020 in Rubin 1/2020 erschienen. Die gesamte Ausgabe können Sie hier als PDF kostenlos downloaden. Weitere Rubin-Artikel sind hier zu finden.

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