Interview Die mediale Vernetzung als Schutz für den Körper
Heute kann man seinen Unmut auch in sozialen Medien kundtun und zu Hause bleiben. Warum die Menschen trotzdem auf die Straße gehen.
Die körperliche Geste ist für den Protest unverzichtbar, meint Prof. Dr. Astrid Deuber-Mankowsky, Medienwissenschaftlerin mit Schwerpunkt mediale Öffentlichkeit und Medienakteure unter besonderer Berücksichtigung von Gender. Auch wenn die Medien dabei eine zentrale Rolle spielen.
Frau Prof. Deuber-Mankowsky, warum gehen die Menschen heute immer noch auf die Straßen und Plätze, um zu demonstrieren, wenn sie auch online Position beziehen können?
Bei den aktuellen Protesten in Hongkong, im Libanon, in Chile, auch beim Arabischen Frühling 2011 und den Protesten im Gezi-Park in Istanbul 2013 steht der Körper selbst im Zentrum, denn es geht um existenzielle Fragen, um Fragen des Überlebens. Es geht um Forderungen wie bessere Lebensbedingungen, eine gerechtere Verteilung des Reichtums, Gewalt gegen Frauen.
Die Körper standen den Gewehren nackt gegenüber.
Das sind, wenn wir Hannah Arendts Politikbegriff zugrunde legen, keine politischen, sondern soziale Forderungen. Das zeigt, dass diese Fokussierung auf den Körper auch den Begriff und die Bedeutung des Politischen neu zur Disposition stellt: Das eine ist ohne das andere nicht denkbar. Trotzdem wäre es schlimm, wenn alles politisch wäre. Um die neue Bedeutung des Körpers zu verstehen, müssen wir die ganz unterschiedliche mediale Erscheinung des Körpers im 20. Jahrhundert berücksichtigen.
Inwiefern hat sich die Rolle des Körpers verändert?
Wenn wir an den 1925 erschienenen Film „Panzerkreuzer Potemkin“ von Sergej Eisenstein denken, wird der Unterschied zur heutigen medialen Umgebung deutlich. Eisenstein inszenierte die revolutionären Massen, die 1905 die erste nicht erfolgreiche Revolution gegen das Zarenreich unternahmen. Die Menschen, die sich dem Aufstand der Matrosen anschlossen, strömten ohne Führung von überall her zu einer Masse zusammen über die berühmte Treppe von Odessa und wurden von den Truppen des Zaren mitleidlos niedergeschossen. Kein Bewegtbild konnte live davon berichten; die Körper standen den Gewehren nackt gegenüber. Die Dokumentation war nicht gesichert, sie lag nicht in der Hand der Protestierenden.
Überwachungskameras sind allgegenwärtig, das Dokumentieren ist allgegenwärtig.
Das wäre heute nicht mehr möglich: Überwachungskameras sind allgegenwärtig, das Dokumentieren ist allgegenwärtig. Demonstrierende nehmen selbst Bilder auf und verbreiten sie über die sozialen Medien. Klassische Medien wie das Fernsehen springen auf und konkurrieren vor Ort um die besten Bilder.
Im Zentrum stehen Körper, die nicht wie in Odessa eine geschlossene Masse bilden, sondern in stetiger Kommunikation über die sozialen Plattformen in abgestimmter Bewegung sind, aber doch ohne zentrale Führung und in stetiger Verbindung mit Medien. Bei den Protesten in Santiago de Chile im vergangenen Oktober waren die meist jungen Menschen ungeachtet des Ausnahmezustandes und Versammlungsverbotes mit Mountainbikes in der Stadt unterwegs und standen über Kopfhörer und Smartphones miteinander in Verbindung. Die verletzlichen Körper werden zum Zentrum und zur Beglaubigung der dokumentarischen Geste. Ihr Schutz ist die mediale Vernetzung.
Was fehlt, wenn Proteste nur online stattfinden?
Nehmen Sie die #MeToo-Bewegung: Hier haben vor allem Berühmtheiten ihre Solidarität erklärt, was von der Presse dann aufgenommen und in den Massenmedien multipliziert wurde. Aber es gab keine Proteste, bei denen man sich getroffen hätte, sich hätte vernetzen können. Es fehlt dadurch den Protestierenden auch die Möglichkeit, sich selbst zu erleben, sich selbst durch Rufe durch das Megafon oder durch das Dabeisein bei Versammlungen zu erfahren, an Debatten teilzunehmen, mediale Aufmerksamkeit zu erfahren.
Öffentlich wurden bei #MeToo vielfach Einzelfälle diskutiert, vor dem Hintergrund der Frage, ob die angeblichen Übergriffe in diesem konkreten Fall wirklich stattgefunden hatten oder nicht. Die solidarische Bewegung stand nicht im Mittelpunkt. Es war trotz Twitter mehr eine Politik der Repräsentation als ein politischer Protest im Wortsinn eines öffentlichen Bezeugens.