Coronakrise Wenn die Intensivbetten nicht für alle reichen
Warum das Alter allein nicht entscheidend sein darf: Neue Richtlinien helfen Ärztinnen und Ärzten, fair zu entscheiden, wer beatmet werden soll und wer nicht.
Die Zahl der mit dem neuartigen Coronavirus Infizierten steigt weltweit weiter an, und noch ist nicht klar, ob die Maßnahmen der vergangenen Wochen die Ausbreitung der Erkrankung in Deutschland bremsen werden. Davon hängt ab, ob die Kapazitäten der Kliniken hier ausreichen werden, alle schwer Erkrankten optimal zu behandeln. Was, wenn nicht? Antworten auf diese schwierige Frage finden Ärztinnen und Ärzte in Richtlinien, die mehrere medizinische Fachgesellschaften binnen kürzester Zeit auf die Beine gestellt haben. Daran beteiligt war der Bochumer Medizinethiker Prof. Dr. Dr. Jochen Vollmann.
Herr Professor Vollmann, mit welchen Herausforderungen für das deutsche Medizinsystem rechnen Sie in den kommenden Wochen?
Wir müssen uns bewusst machen, dass wir uns auf eine Situation vorbereiten, die wir gerade mit allen Mitteln versuchen zu vermeiden, und die es hier seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr gegeben hat. Abgesehen von wenigen Hochbetagten kann sich niemand an solche Situationen erinnern, in denen nicht jeder Patient die nötige Behandlung bekommen konnte. Wenn wir aber aktuell nach Italien oder ins Elsass oder auch nach New York schauen, sehen wir, dass es durchaus möglich ist, dass es in kurzer Zeit auch hier mehr lebensbedrohlich an Covid-19 Erkrankte geben wird, als wir optimal behandeln können.
Sollte es dazu kommen, dann ist ein ethisches Umdenken notwendig, sowohl für das medizinische Personal als auch für die Öffentlichkeit: Wenn nicht jeder Kranke intensivmedizinisch behandelt werden kann, müssen die begrenzten Therapiemöglichkeiten so eingesetzt werden, dass möglichst viele Patienten überleben. Trotzdem darf es in dieser schwierigen Situation keine Willkür geben. Es müssen faire und transparente Entscheidungen getroffen werden.
Auf welcher Grundlage kann das gelingen?
Wenn es nicht mehr für alle die Möglichkeit optimaler Hilfe gibt, muss diese Hilfe zuerst denjenigen zugutekommen, die die größte Wahrscheinlichkeit haben, dank dieser Maßnahmen die Erkrankung zu überleben. Das bedeutet, dass Schwerstkranke, die voraussichtlich trotz Beatmung nicht überleben werden, nicht beatmet werden. Es geht darum, die begrenzten Ressourcen so zu verteilen, dass möglichst viele überleben.
Wir haben den Kopf in den Sand gesteckt.
Bei den Faktoren, die einer Entscheidung zugrunde gelegt werden sollen, haben wir uns bewusst gegen eine Altersgrenze als soziales Verteilungskriterium entschieden. Ebenso wie Bildungsstand, private oder gesetzliche Krankenversicherung oder das Einkommen darf das bei einer ethischen Entscheidung keine Rolle spielen. Statistisch haben alte und sehr alte Menschen bei einem schweren Verlauf von Covid-19 allerdings eine schlechtere Prognose. Deshalb und nicht wegen ihres Alters als solches würden sie in der oben beschriebenen Situation häufiger zur Gruppe der nichtbehandelten Patienten gehören. Das kann aber auch einen jüngeren Patienten treffen, der wegen schwerer Vorerkrankungen ebenfalls eine schlechte Prognose hat.
Gab es solche Richtlinien schon und wurden sie angepasst, oder wurden sie jetzt ganz neu entwickelt?
Solche Richtlinien gab es bisher in Deutschland nicht. Sie sind jetzt innerhalb sehr kurzer Zeit interdisziplinär erstellt worden, um diese Lücke zu schließen. Viele meiner Kollegen und ich haben bis in die Nacht dafür gearbeitet.
Wir haben uns in unserer Wohlstandsgesellschaft darauf ausgeruht, dass es ähnliche Situationen schon sehr lange nicht mehr gab und die Wahrscheinlichkeit dafür sehr gering eingeschätzt wurde, so wie für andere Krisenfälle übrigens auch. Im Medizinstudium spielen solche Szenarien und ihre Konsequenzen so gut wie keine Rolle. Um es kurz zu sagen: Wir haben den Kopf in den Sand gesteckt. Jetzt müssen wir in fast allen Lebensbereichen neue Fakten lernen und unser Verhalten konsequent, diszipliniert und geduldig ändern.