Lange versuchte der deutsche Staat, die Impfraten in der Bevölkerung über Aufklärung zu steigern. Das gelang nicht im erhofften Maße. Für Masern kommt daher nun die Impfpflicht.
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Masern-Impfpflicht Wenn der Staat über den Körper entscheidet

Jahrelang wurde über sie diskutiert, nun ist sie da: die Masern-Impfpflicht. Bei der Abwägung zwischen elterlichem Erziehungsrecht und Bevölkerungsschutz hat sich die Politik für Letzteres entschieden.

Am 1. März 2020 ist in Deutschland ein neues Gesetz in Kraft getreten, das Menschen vor einer Infektion mit Masern schützen soll. Wer in die Kita, den Kindergarten oder in die Schule geht oder dort arbeitet, muss nachweisen, dass er oder sie gegen Masern geimpft ist. Das gilt nicht nur für Kinder, die neu in Einrichtungen aufgenommen werden, sondern auch für die, die sie bereits besuchen. „Eine Impfpflicht wurde immer mal wieder diskutiert, aber die Politik hat sich damit schwer getan“, sagt die Bochumer Juristin Dr. Andrea Kießling, die zu Rechtsfragen im Bereich der öffentlichen Gesundheit forscht. Sie verfolgt die Diskussion um die Impfpflicht schon mehrere Jahre.

Lange setzte die Politik auf Aufklärung, rief etwa Informationskampagnen wie „Deutschland sucht den Impfpass“ ins Leben und hielt Ärzte an, ihre Patientinnen und Patienten zu bitten, Impfausweise mit zu Vorsorgeuntersuchungen zu bringen. Ein weiterer Schritt folgte 2015 mit einer Änderung des Infektionsschutzgesetzes. „Eltern mussten von da an nachweisen, dass sie für ihre Kinder eine Impfberatung in Anspruch genommen hatten, wenn sie die Kinder in die Kita gaben“, schildert Andrea Kießling. „In der Praxis hat das aber nicht geklappt.“ Viele Eltern erbrachten den erforderlichen Nachweis nicht, und das Kita-Personal fragte auch nicht immer danach. „Weil den Erzieherinnen und Erziehern klar war, dass es eh nichts ändert“, erklärt die Juristin. Sie konnten dem Gesundheitsamt zwar melden, dass Eltern sich nicht hatten beraten lassen; ob ein Kind geimpft war oder nicht, erfuhren sie so trotzdem nicht.

Der Gesetzgeber kommt jetzt mit dem scharfen Schwert.


Andrea Kießling

Das soll sich ändern. „Der Gesetzgeber kommt jetzt mit dem scharfen Schwert“, veranschaulicht Kießling. Nach Inkrafttreten des Masernschutz-Gesetzes im März haben Betroffene bis 31. Juli 2021 Zeit, die erforderlichen Impfnachweise vorzulegen. Wer dem keine Folge leistet, muss zwar keine Zwangsimpfungen fürchten, aber das Gesetz sieht indirekte Bestrafungen vor. Nicht geimpfte Kinder können ihren Kita-Platz verlieren beziehungsweise erhalten von vorneherein gar keinen Platz. Für Schulpflichtige droht ein Bußgeld bis zu 2.500 Euro.

Ein Eingriff in die elterlichen Rechte

Manche empfinden das als Eingriff in die körperliche Unversehrtheit ihrer Kinder und in die elterlichen Rechte. „Das ist es natürlich auch“, sagt Andrea Kießling. „Aber der Eingriff ist zu rechtfertigen. Man kann sogar diskutieren, an welchem Punkt man Kinder vor ihren Eltern schützen muss.“ Manche Impfgegner sehen Masern nicht als schlimme Krankheit an, haben Angst vor Nebenwirkungen der Impfung oder denken sogar, dass ein Kind die Masern durchgemacht haben sollte. „Es gibt Eltern, die sogar zu Masernpartys gehen, wo sie auf erkrankte Kinder treffen, an denen sich die eigenen Kinder anstecken sollen, was auch ziemlich sicher klappt“, erzählt Andrea Kießling. „Das ist in meinen Augen Kindeswohlgefährdung.“

Masern

Bei den Masern handelt es sich um eine hoch ansteckende Virus-Erkrankung, die zu schweren Komplikationen führen kann. Betroffene können hohes Fieber, Husten oder Schnupfen sowie Entzündungen im Nasen-Rachen-Bereich und der Augen-Bindehaut erleiden. Nach einigen Tagen bildet sich der typische Hautausschlag, der am Kopf beginnt und sich auf den ganzen Körper ausdehnen kann. Die Krankheit begünstigt das Auftreten von Zweitinfektionen, sodass häufig Mittelohrentzündungen, Atemwegs- oder Lungenentzündungen hinzukommen. Bei etwa einem von 1.000 Masernfällen tritt eine Gehirnentzündung als besonders schwere Komplikation auf, die tödlich verlaufen kann.

Die Ständige Impfkommission empfiehlt eine erste Masern-Impfung im Alter von 11 bis 14 Monaten, eine zweite im Alter zwischen 14 und 23 Monaten. Gerade die zweite Impfung erfolgt häufig nicht, wodurch das Erkrankungsrisiko steigt. An Masern erkranken kann jeder, der die Infektion noch nicht durchgemacht hat oder keinen vollständigen Impfschutz besitzt. Besonders gefährdet sind Säuglinge, die zu jung für eine Impfung sind, oder Jugendliche und junge Erwachsene, bei denen in der Kindheit kein vollständiger Impfschutz aufgebaut wurde.

Nach Abwägen aller Argumente für und gegen die Impfpflicht ist Andrea Kießling zu dem Schluss gekommen, dass diese verfassungsgemäß ist. „Es geht um den Schutz der Bevölkerung“, sagt sie. „Das Ziel ist es, eine Herdenimmunität zu erreichen, sodass auch nicht Geimpfte geschützt sind.“ Kinder, die noch keine elf Monate alt sind, oder Menschen mit Immunschwäche etwa können nicht geimpft werden. Experten zufolge wären auch sie vor einer Masern-Verbreitung sicher, wenn 95 Prozent der Bevölkerung geimpft wären.

Die Art der Krankheit ist entscheidend

„Bei einer Impfpflicht muss man immer betrachten, um welche Krankheit es geht“, erklärt Andrea Kießling. „Wie schwer verläuft sie? Wie ansteckend ist sie?“ Eine Impfpflicht für Windpocken wäre beispielsweise nicht verhältnismäßig, weil die Krankheit zwar ansteckend ist, aber maximal Narben als bleibende Schäden auslöst. Gleiches gilt beispielsweise für die zwar schwer verlaufende, aber nicht ansteckende Tetanus-Krankheit.

Andrea Kießling forscht am Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Sozial- und Gesundheitsrecht und Rechtsphilosophie.
© Damian Gorczany

Masern hingegen sind hoch ansteckend und können schwere Folgen haben. Fast jeder Kontakt zwischen einer ungeschützten und einer infizierten Person führt zu einer Ansteckung, auch aus einigen Metern Entfernung. Da die Viren das Immunsystem schwächen, haben zusätzliche Erreger leichtes Spiel, sodass es schwere Komplikationen, etwa tödlich verlaufende Gehirnerkrankungen geben kann. Bei diesen Voraussetzungen kann der Gesetzgeber sich auf bevölkerungsmedizinische Gründe stützen und zum Schutz der Gemeinschaft eine Impfpflicht durchsetzen.

Nur Dreifachimpfung verfügbar

Einen Haken hat das Masernschutz-Gesetz in seiner jetzigen Form jedoch, erklärt Andrea Kießling: „In dem Gesetzestext und in der Begründung ist ausschließlich von Masern die Rede“, sagt die Forscherin. „In der Praxis ist in Deutschland aber nur ein Dreifachimpfstoff gegen Masern, Mumps und Röteln im Einsatz. Das Gesetz wirkt faktisch also auch als Impfpflicht für andere Krankheiten.“ Allerdings müsste wegen dieser Schwachstelle nicht unbedingt das Gesetz geändert werden. In anderen Ländern gibt es auch Impfstoffe, die nur gegen Masern wirken und die auch in Deutschland auf den Markt gebracht werden könnten. Laut Andrea Kießling müsste der Staat darauf hinwirken, dass dieser Einzelimpfstoff auch in Deutschland verfügbar wird, damit Gesetz und Praxis im Einklang wären.

Impfpflicht gilt auch für Flüchtlingsunterkünfte

Betroffen von der neuen Impfpflicht sind nicht nur Schulen und Kinder-Betreuungseinrichtungen, sondern auch Flüchtlingsunterkünfte. Im ersten Entwurf des Gesetzes waren sie zunächst nicht erwähnt gewesen. Die endgültige Fassung besagt jedoch, dass sich auch das Personal sowie die in den Unterkünften lebenden Kinder und Erwachsenen gegen Masern impfen lassen müssen.

Interessanterweise ist das Gesetz in Bezug auf Flüchtlingsunterkünfte kaum angegriffen worden.


Andrea Kießling

„Der Impfstatus der geflüchteten Menschen ist oft nicht bekannt, und sie kommen häufig aus Ländern mit einem schlechter strukturierten Gesundheitssystem. Daher muss man davon ausgehen, dass die Impfquote in Flüchtlingsunterkünften schlechter ist als in der breiten Bevölkerung Deutschlands“, so Kießling. Die Impfpflicht sei daher auch hier zu rechtfertigen. „Interessanterweise ist das Gesetz in Bezug auf Flüchtlingsunterkünfte kaum angegriffen worden“, ergänzt sie. Viel lauter empörten sich Eltern, die ihre Kinder für die Kita oder Schule impfen lassen sollen.

„Die meisten Impfgegner finden sich in höheren sozialen Schichten“, weiß Andrea Kießling. „In Zukunft würde ich mich gern noch mit der These auseinandersetzen, dass Infektionsschutz eher akzeptiert wird, wenn es um Randgruppen geht, die keine oder nur eine kleine Lobby haben.“ Auf gut verdienende Eltern trifft das nicht zu. „Vielleicht hat man sich deshalb so lange mit der Masern-Impfpflicht schwergetan“, vermutet Kießling.

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Veröffentlicht

Donnerstag
23. April 2020
09:37 Uhr

Dieser Artikel ist am 4. Mai 2020 in Rubin 1/2020 erschienen. Die gesamte Ausgabe können Sie hier als PDF kostenlos downloaden. Weitere Rubin-Artikel sind hier zu finden.

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